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Wenn Familie Trumpf ist

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Foto: die Väterrunde beim Verteilen der mitgebrachten Geschenke [1]

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Günther Lanier, Ouagadougou 9. August 2023[2]

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Sie war stets eine gute Schülerin gewesen. Ein halbes Jahr vor der Matura in einer renommierten Schule im Zentrum von Ouagadougou, der burkinischen Hauptstadt, bewarb sie sich – erfolgreich – um ein Stipendium für ein College in weiter Ferne. Nachdem sie die Matura daheim erfolgreich abgelegt hatte, verließ sie Burkina für zwei Jahre (ein Flugticket für einen Zwischendurch-Besuch zu Hause enthielt das Stipendium nicht) und legte das International Baccalaureate ab. Dieses verschaffte ihr Zugang zu einer US-amerikanischen Universität mitsamt Stipendium. Kurz zwischen College und Uni und einmal für einen Monat während ihrer Studienzeit hatte sie zu den Eltern kommen können. Vor kurzem ist sie mit der Uni fertig geworden. Zur graduation – dieses Uni-Abschlussfest wird in den Vereinigten Staaten überaus ernstgenommen – kam von der Familie nur eine nicht allzu weit weg lebende Tante mit ihren Kindern. Mit dem Uni-Abschluss erlischt das Recht auf Unterkunft am Campus. So suchte und fand sie mit ihrer besten Freundin eine Wohnung in der Nähe (sie will in den USA Berufserfahrung sammeln, vielleicht auch noch bis zum Doktorat weiterstudieren, bevor sie nach Burkina zurückkehrt). Doch da erhob sich ein Sturm der Entrüstung in ihrer Familie. Sie kann doch nicht in der Fremde mit einer Fremden (Nicht-Verwandten) leben! Sie soll gefälligst zu ihrer Tante ziehen! So gehört es sich für ein unverheiratetes Mädchen (zur Frau wird ein weibliches Wesen erst durch die Heirat)! Die wohnt daheim – Internat und Unterkunft am Uni-Gelände sind ausnahmsweise akzeptabel – und zieht nach der Hochzeit zu ihrem Ehemann.

Nun, sie hat dem massiven Druck ihrer Eltern, Onkel und Tanten nicht nachgegeben. Alle Vernunft sprach auch gegen eine Übersiedlung zu ihrer Tante, sie hätte ihrer “Karriere“ sicher nicht gutgetan. Doch für die Familie zählte das offenbar weniger als fundamentale Benimm-Regeln.

Grund meines Erstaunens: Diese erfolgreiche junge Frau hat schon über viele Jahre ihre Selbständigkeit in weit entferntem Ausland unter Beweis gestellt. Und es handelt sich bei den protestierenden Familienangehörigen nicht um DorfbewohnerInnen oder TraditionalistInnen, sondern um Leute, die mit beiden Beinen in der Moderne stehen, die Mehrheit von ihnen sogar Studierte.


die Delegation des Bräutigams auf dem Weg zur Mütterrunde im verputzten Haus im Hintergrund

Heiraten kann eineR in Burkina drei Mal: traditionell, zivil und religiös. Kaum jemand lässt die Tradition aus. Ein derartiger Bruch mit den Konventionen könnte sich einmal als gefährlich erweisen: Hast du dich über familiäre Gepflogenheiten hinweggesetzt, so wird sich die Familie, gerätst du in Schwierigkeiten, nicht oder wenig um dich kümmern. Und die Familie bleibt auch im modernen Teil der Gesellschaft das bei weitem wichtigste soziale Netz, die wichtigste “Versicherung“ gegen Schicksalsschläge[3].

Was ich heute hier berichte, spielt unter den Mossi. Sie sprechen Mooré und stellen etwa die Hälfte der Burkinabè. Ihr traditionelles Siedlungsgebiet liegt im Zentrum des Landes, rund um Ouagadougou. Traditionen unterscheiden sich freilich auch innerhalb der Gruppe der Mossi: Auch wenn die Grundzüge gleich sind, so können Heiratsbräuche von einer Großfamilie zu einer anderen variieren. Mir geht’s nicht um Allgemeingültigkeit, sondern darum, das zugrundeliegende Denken darzustellen und das gilt sogar über die Mossi hinaus, auch wenn sich die konkreten Bräuche erheblich unterscheiden mögen.

“Pʋg-pʋʋsem“ heißt die traditionelle Heirat auf Mooré. Inzwischen hat sich in Burkina (auch für Nicht-Mossi) dafür das Kürzel “pps“ eingebürgert. “Paga“, das in Zusammensetzung hier zu “pʋg“ (wie pug ausgesprochen) wird ist die Frau, die Ehefrau, die Braut und “pʋʋsem“ ist das Grüßen.

Dem pps geht die “Bãng-buudu“ voraus, bei der sich der Brautwerber der Familie der Umworbenen vorstellt, wobei hier die Eltern im Vordergrund stehen. “Bãng“ heißt kennen, wissen und “buudu“ ist die (Groß)Familie. Auf diese Vorstellung, so sie nach Wunsch verläuft, folgen Nachforschungen und Verhandlungen zwischen den beiden involvierten Familien – dabei haben nicht mehr die biologischen Eltern das Sagen. Sind die Erkundigungen positiv, so geht es zuletzt darum, was der Brautwerber zum pps an Geschenken[4] mitbringen soll: Kolanüsse jedenfalls, Salz, Tabak, Reis, das eine oder andere Huhn und Geld – dieses Brautgeld ist bei den Mossi allerdings recht bescheiden, es dient vor allem der Symbolik.

Beim pps selbst begibt sich die Delegation der Brautwerber-Familie zum Stammsitz der Familie der Braut, also in das Dorf, wo der Vater der Braut ursprünglich her ist[5]. Dort muss sie drei Mal um die Braut “verhandeln“ (da die Geschenke vorher festgelegt worden sind, sollte nunmehr nichts mehr schiefgehen): mit der Runde der Väter, der Runde der Mütter und zuletzt der Runde der Tanten. Der Brautvater selbst nimmt nicht am pps teil, die Brautmutter schon. “Väter“ sind alle männlichen Verwandten der Braut aus Generationen vor ihr, “Mütter“ alle Schwestern und Cousinen[6] der Mutter, “Tanten“ alle Schwestern und Cousinen der Väter der Braut. Die Verhandlungen dauern Stunden, sie bestehen bei den Vätern insbesondere im Verteilen der vom Brautwerber mitgebrachten Geschenke. Die Tanten erweisen sich gemäß Tradition als die schwierigsten VerhandlungspartnerInnen, das heißt, sie weisen die mitgebrachten Geschenke (Kolanüsse und Geld) als unzureichend zurück. Die Brautwerber-Delegation bessert dann nach. Die Tanten dürfen aber nur eine bestimmte Zahl von Malen zurückweisen. Nach den Verhandlungen mit den Müttern oder Tanten werden die Schwestern der Braut noch ihren Anteil fordern (der einzige, der nicht vorher festgelegt wurde, er ist besonders gering), damit sie die Braut ziehen lassen.

Dann beginnt das Fest, für das sich die Familie der Braut schon seit Tagen vorbereitet hat. Sie hat groß aufgekocht (Heiraten ist sehr teuer), das in großen Plastik-Kanistern herbeigeschaffte Hirsebier (“dolo“)[7] und diverse andere Getränke fließen in Strömen.

Braut und Bräutigam müssen bei der traditionellen Heirat nicht anwesend sein. Wichtig ist einzig, dass ihre Familien den Bund geschlossen haben. Burkinabè, die z.B. in Europa leben und die heiraten wollen, brauchen für das pps nicht nach Hause zurückkommen, es kann problemlos an ihrer statt geheiratet werden.


während mit den Müttern verhandelt wird, haben sich die kleinen Schwestern der Braut mehrerer Paar Schuhe der Delegierten des Bräutigams bemächtigt, um ihren Forderungen nach Geschenken mehr Nachdruck zu verleihen

Eine wichtige Person in Heiratsangelegenheiten habe ich noch nicht erwähnt: den Mittler (“yagenga“). Er entstammt der Gruppe von Söhnen der Schwiegersöhne der Familie des Brautvaters. Mit anderen Worten hat er eine Mutter aus der Brautfamilie, sein Vater ist aber ein Familienfremder. Somit tragen Mittler einen anderen Nach-/Familiennamen als die Brautfamilie[8]. Gilt es, Streit zu schlichten oder ein Problem zu lösen, das auf direktem Weg nicht lösbar ist, so kann sich eineR an solche Mittler wenden.

Auch beim pps hat ein yagenga eine wichtige Rolle – noch wichtiger aber ist er, wenn es gilt, Buße zu tun für ein außer- oder eigentlich voreheliches Kind. War die Frau nicht verheiratet, als sie das Kind gebar, so ist das ein arger Regelverstoß[9], bedeutet es doch, dass sie ohne Erlaubnis ihrer Familie gehandelt hat. Lebt die Frau mit ihrer Herkunftsfamilie und wird unverheiratet schwanger, so verjagt sie der Vater. Bis sie Buße geleistet hat, dürfen er und sämtliche männlichen Familienmitglieder unter keinen Umständen mit ihr in Kontakt treten (auch telefonisch nicht). Die Verjagte wendet sich dann an den Mittler. Ist das Kind einmal geboren, so kann sie Abbitte leisten. Was sie beziehungsweise der Kindsvater dafür tun muss, gilt es auszuhandeln. Und das läuft jedenfalls über einen yagenga.

In so einem Fall wird im Vorspann des pps eine Zeremonie abgehalten, bei der Hühner geopfert werden (der Mann mit dem Opfermesser ist auch ein yagenga). Nachdem ihnen der Hals durchgeschnitten worden ist, müssen sie auf den Rücken fallen, dann ist klar, dass die AhnInnen das Opfer angenommen haben und nunmehr mit der Heirat einverstanden sind. Die Hühner müssen dann von Buben der Familie auf einem von ihnen außerhalb des Gehöfts angezündeten Feuer gebraten werden; erst, wenn das Fleisch regelgerecht verteilt worden ist, kann das eigentliche pʋg-pʋʋsem beginnen. Um ihre Geduld nicht allzu sehr auf die Folter zu spannen, wird der Väterrunde unterdessen schon dolo (Hirsebier) serviert.

Eine traditionelle Heirat ist eine ernste Angelegenheit. Für eine Frau gibt es nur ein pps im Leben. Sollte sie sich von ihrem Ehemann trennen und mit einem anderen Mann zusammenleben, so mag das akzeptiert werden – aber sie “gehört“ noch immer der Familie des Mannes, der mit ihr pps gefeiert hat, und wenn sie stirbt, muss sie bei ihm begraben werden[10].


kurz vor der Zeremonie, die das Verzeihen des vorehelichen Kinderkriegens besiegelt; in der Nähe der Hühnerrichtstätte (hinter dem grünen Kanister) dürfen keine Schuhe getragen werden und bei der Zeremonie selbst ist Fotografieren und Filmen verboten

Trifft ein yagenga (Mittler) auf ein weibliches Mitglied der Familie seiner Mutter, so kann er sie “Mama“ nennen, auch wenn sie gleichen Alters ist wie er oder jünger – und er schuldet ihr Respekt und ein Verhalten wie seiner Mutter gegenüber.

Auch jenseits aller Verwandtschaft mischt sich manchmal die Familie ins Alltagsleben. Triffst du eine Kollegin, die denselben Namen trägt, wie deine Mutter, dann nennst du sie “Mama“. Eine Freundin sowieso. In so einem Fall bringt das keinerlei Pflichten mit sich, bringt aber familiäre Wärme in die Beziehung.

Die Familie kann sogar Geschlechterverhältnisse auf den Kopf stellen. Eine Ehefrau ist nicht nur für ihren Ehemann “meine Frau“, sondern auch für seine Schwester. Kein Wunder: Sie gehört ja nicht ihrem Ehemann, sondern dessen Familie. Der Schwägerin gegenüber kann sich die Ehemann-Schwester als “sɩd-poaka“ bezeichnen, als weiblicher Ehemann (“sɩda“ heißt Ehemann, wie “sida“ ausgesprochen, “poaka“ weiblich).

Sozusagen Transsexualität aus Tradition.


nach dem pps befinden sich der Bräutigam und seine Begleiter (im Hintergrund kaum sichtbar) auf dem Weg in die Moschee für die religiöse Heirat, während das Festessen für die anderen schon beginnt; er selbst wird in der Moschee nicht lange brauchen

* * *

Endnoten:

[1] Beim pps letzten Samstag habe ich niemanden gefragt, ob sie einverstanden sind, dass ich ihr Foto für meinen heutigen Artikel verwende. Ich habe daher leider nicht die schönsten Fotos verwenden können, sondern die, wo die Fotografierten am wenigsten zu erkennen sind.
Alle Fotos GL 5.8.2023 westlich von Ouagadougou.

[2] Petra Radeschnig gilt – wie stets – mein herzlicher Dank fürs Lektorieren!

[3] Es gibt kein Arbeitslosengeld in Burkina. Die eher wenigen bei der CNSS (Sozialversicherungskassa) angemeldet Arbeitenden erhalten als Pension ein Drittel ihres letzten Gehalts. Das reicht selten. Eine allgemeine Krankenversicherung ist erst im Aufbau begriffen, befindet sich in einer frühen Testphase – und es ist unwahrscheinlich, dass sie allzu allgemein ausfallen wird.

[4] Früher bestand ein wesentlicher Teil der Werbung um die Braut in Feldarbeit für die künftige Schwiegerfamilie, manchmal über mehrere Jahre. Dabei galt es für den Schwiegersohn in spe zu zeigen, wie gut er arbeitete, um zu beweisen, dass er seine Zukünftige erhalten würde können. In der Regel lebten früher die Brautleute in ihren jeweiligen Großfamilien und diese nahe zueinander.

[5] Auch der Vater muss gar nicht dort geboren sein, aber er leitet von dort seine Abstammung her. JedeR in Burkina hat sein oder ihr Dorf – dort, wo der Vater her ist.

[6] “Cousins“ und “Cousinen“ gibt es auf Mooré nicht – das sind “Brüder“ und “Schwestern“. Die Brüder des Vaters sind “Väter“.

[7] Strenge MuslimInnen trinken freilich keinen Alkohol.

[8] Der Name wird in der Patrilinie weitergegeben. Dass nur Söhne diese Funktion des Vermittelns und Schlichtens ausüben können, liegt zweifellos am Patriarchat. Töchter bringen eigentlich dieselben Voraussetzungen mit (Mutter aus der Brautfamilie, Vater von außerhalb, Name des Vaters).

[9] Unter den Peulh ist dieser Verstoß besonders arg und bringt die ganze Familie in Verruf. Das ist der Grund für die unter Peulh besonders stark verbreitete Kinderheirat – wird eine Tochter früh genug verheiratet, kann sie über ihre Herkunftsfamilie durch voreheliche Schwangerschaft keine Schande bringen.

[10] Ich habe nicht eruieren können, wie verbreitet dieser Brauch ist. Und ebenso wenig, wie sehr er eingehalten wird.

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