Günther Lanier, Ouagadougou, 24.3.2021
Um diese Frage für betroffene afrikanische Länder zu beantworten, hat die UNDP im Rahmen ihres Programms “Afrika: Gewaltsamem Extremismus vorbeugen“[1] über zwei Jahre unter ehemaligen Angehörigen extremistischer Gruppen (plus einer Kontrollgruppe)[2] in Nigeria, Kenia, Somalia[3] und Sudan geforscht und auf dieser Basis eine Studie[4] erstellt, die Hintergründe und Motive des TerroristIn-Werdens oder -Nichtwerdens beleuchtet.
Hier ein Überblick über die wichtigsten Ergebnisse der Studie, ein Versuch, den typischen Werdegang von TerroristInnen darzustellen.
Was die Herkunft betrifft, so stammen TerroristInnen typischerweise aus Gebieten, die seit langem vernachlässigt worden sind, wo von politischer, sozialer und ökonomischer Marginalisierung gesprochen werden kann und wo ein genereller Zustand der “Unterentwicklung“ wenig Perspektiven bietet. Auf der rein individuellen Ebene parallel dazu wirkt ein Elternhaus, wo sich niemand um das heranwachsende Kind gekümmert hat, sich niemand für es interessiert hat, wo gleichzeitig aber schnell bestraft wurde. Und verstärkt wird die Prädisposition, wenn wenig Kontakte zu “Anderen“ stattgefunden haben, sowohl was andere Religionen, als auch, was andere Ethnien betrifft. Leute, die nie aus ihrem Dorf herausgekommen sind, die nie in einer Stadt waren, sind besonders anfällig.
Der (“westlichen“) Bildung gebührt insbesondere im Boko Haram-Kontext erhöhte Aufmerksamkeit, sind doch Institutionen un-islamischer Erziehung eines der prioritären Ziele ihrer Attacken. Die UNDP-Studie findet eine deutliche Korrelation zwischen Mangel an formeller Bildung und freiwilliger Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppen. Das hängt sicher mit den Zukunftsperspektiven zusammen, die Schulbesuch eröffnet, und auch mit der zusätzlichen Sozialisierung, die in der Schule quasi automatisch passiert. Dazu kommt noch ein Mindestmaß staatsbürgerlicher Werte, die während der Jahre auf der Schulbank vermittelt werden. Freilich kann andererseits aber nicht ausgeschlossen werden, dass sich jemand auch nach langen Jahren des Schulbesuchs für einen Beitritt entscheidet.
Nach den Motiven befragt, warum sie sich einer terroristischen Gruppe angeschlossen haben, geben 51% religiöse Gründe an. Die Religion befindet sich somit deutlich an erster Stelle unter den Motiven. Allerdings ist umgekehrt festzustellen, dass 49% andere als religiöse Gründe angeben, was eigentlich angesichts der hohen Bedeutung von Religion in der Ideologie dieser Gruppen überrascht. Wenig überrascht hingegen, dass Toleranz gegenüber anderen Religionen unter freiwilligen Mitgliedern selten zu finden ist.
Gründliche, also lange religiöse Erziehung korreliert negativ mit dem Beitritt zu einer terroristischen Gruppe. Wer allzu beschlagen ist in religiösen Fragen, ist wenig rekrutiergefährdet. Dazu passt, dass 57% angeben, entweder nie im Koran zu lesen oder kaum oder gar nicht zu verstehen, was sie lesen. Religionsunterricht guter Qualität immunisiert also gegen die Verlockungen des islamistischen Terrorismus.
Die schlechte materielle Lage trägt sicher wesentlich zu den Frustrationen bei, die den Nährboden für freiwillige Beitritte schaffen. Nach dem dringendsten Bedürfnis zum Zeitpunkt der Rekrutierung befragt, war “Beschäftigung“ die meistgewählte Antwort. Insofern ist überraschend, dass nur 42% der Interviewten regelmäßig Lohn erhielten – 35% hingegen gaben an, überhaupt nie bezahlt worden zu sein.
Dem Staat, der Regierung vertraut kaum wer. 83% sind der Ansicht, dass sich letztere nur um die Interessen einer kleinen Elite kümmert; und seinen Pflichten (Sicherheit, Bildung, Gesundheit, Wasser, Strom) käme der Staat kaum nach. Was die Sicherheitskräfte betrifft, so ist das Verhältnis von Misstrauen, ja Feindschaft geprägt. Zu oft sind ZivilistInnen Opfer von Menschenrechtsverletzungen geworden. Auch politischen FührerInnen wird kaum vertraut. Im Allgemeinen werden nur traditionelle und religiöse Autoritäten respektiert und geachtet. Generell muss von einem gebrochenen Verhältnis zwischen dem Staat und seinen terrorismusgefährdeten Bürgerinnen ausgegangen werden. Man könnte von einer radikalen Entfremdung sprechen. Doch hat es je Vertrauen, hat es je ein Naheverhältnis gegeben?
So haben wir uns dem Moment des Beitritts genähert, dem “Kipppunkt“. Was ist der endgültige Auslöser für diese doch sehr weitreichende Entscheidung?
In der großen Mehrheit der Fälle handelte es sich nicht um eine langsam heranreifende Entscheidung, sondern um ein traumatisches Erlebnis. 71% gaben an, dass es der Staat war, der sie zu diesem Schritt veranlasst hat, dass Familienmitglieder oder FreundInnen umgebracht wurden oder Familienmitglieder oder FreundInnen verhaftet wurden.
In der hier zusammenfassten Studie geht es um ein Verständnis der Bedingungen und Motive von TerroristInnen. Dass das UNDP-Programm “Gewaltsamem Extremismus vorbeugen“ heißt, drückt schon die zugrundeliegende Herangehensweise aus: Terrorismusbekämpfung (Counter-Terrorism/CT) tendiert zur Gewalt, zum Dreinschlagen und hat sich als ineffizient erwiesen; “Preventing Violent Extremism/PVE“ geht die Frage sehr viel holistischer an, wird zwar auch nicht ohne Waffengewalt auskommen, ist sich deren Problematik jedoch überaus bewusst und versucht, das Problem an der Wurzel zu lösen.
Eine solche Herangehensweise hat sich in der Theorie mittlerweile zwar weitgehend durchgesetzt und sogar die Generäle spicken ihre Diskurse heutzutage mit der Notwendigkeit entwicklungspolitischer Maßnahmen – in der Praxis dominiert jedoch weiterhin die militärische “Antwort“ auf den Terrorismus. Das gilt für das in der UNDP-Studie nicht berücksichtige Mali[7] genauso wie für die Al-Shabaab in Somalia und Boko Haram in Nigeria.
Freilich ist das Vorbeugen eine langwierige Angelegenheit. Vernachlässigte Regionen und ihre BewohnerInnen in ein System einzubeziehen, dessen ökonomische Logik sie schließlich nicht grundlos ausgeschlossen hat, sie auch mitprofitieren zu lassen, bedarf großer Anstrengungen und vielleicht sogar einer grundsätzlichen Umorientierung staatlicher Wirtschaftspolitik, widersprechen solche Interventionen doch den weltweit vorherrschenden neoliberalen Prinzipien.
Doch auch diesseits solch fundamentaler Eingriffe kann im Umgang mit Terrorismus nachgebessert werden. Das Zauberwort ist “Gemeinschaft“. Dort, wo der Staat versagt, wo er abwesend ist, “seine“ Bevölkerung vernachlässigt, seinen Aufgaben – insbesondere dem Sorgen für Sicherheit und Ordnung – nicht nachkommt, macht es einen großen Unterschied, wie gut die lokale Gemeinschaft funktioniert. Es braucht “community-led solutions“: Lösungen unter Führung der Gemeinschaft.
Darum wird es hier ein anderes Mal gehen.
Im Umgang mit Terror sollten Staaten Samthandschuhe anziehen und ihre Militärs meist zurückpfeifen. Ein brutales Dreinschlagen kann viel Schaden anrichten, nicht so sehr, weil es zu einer Radikalisierung der TerroristInnen führen kann wie zum Beispiel 2009 bei Boko Haram[9], sondern vor allem, weil die vom Terrorismus hauptbetroffenen Gemeinschaften allzu oft kollaterale Opfer solch brutalen Vorgehens sind. Nicht wissend, ob sie sich vor den TerroristInnen oder vor den staatlichen Sicherheitskräften mehr fürchten sollen, lassen sie sich leichter von ersteren anwerben.
Aus zentralstaatlicher Sicht ginge es darum, den “Gesellschaftsvertrag“, den “Sozialkontrakt“ zu erneuern und zwar insbesondere mit den StaatsbürgerInnen in benachteiligten, oft entlegenen Gebieten. Deren Bedürfnisse gilt es zu berücksichtigen. Solange sie ignoriert werden, wird auch keine Zusammenarbeit gegen den Terror möglich sein, ja es kann durchaus rational und nachvollziehbar sein, dass sie sich auf die Seite der TerroristInnen schlagen.
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Endnoten:
[1] Africa PVE programme. PVE = Preventing Violent Extremism.
[2] Interviewt wurden 495 freiwillige und 87 zwangsrekrutierte Mitglieder von Terrorgruppen sowie 145 Nicht-Mitglieder mit ähnlichem Background. 41% der Interviews fanden in Somalia statt, 24% in Nigeria, 20% in Kenia, 14% im Sudan, 1% in Kamerun und 1% in Niger. Das Sample bestand zu 81% aus Männern und 19% aus Frauen, nur bei den interviewten ehemaligen Boko Haram-Mitgliedern war das Geschlechterverhältnis sehr viel ausgeglichener (56 zu 44%). Die Interviews der Ex-TerroristInnen fanden vor allem in Gefängnissen, Internierungslagern oder Rehabilitationszentren statt.
[3] Das dem Artikel vorangestellte Foto zeigt Al Shabaab-Mitglieder, die sich der African Union Mission in Somalia (AMISOM) ergeben haben, Garsale, nahe Jowhar, Foto AMISOM Public Information 22.9.2012, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Al_Shabaab_fighters_disengage_and_lay_down_arms_01_(8019360014).jpg.
[4] UNDP Regional Bureau for Africa, Journey To Extremism In Africa: Drivers, incentives and the tipping point for recruitment, New York (UNDP) 2017, herunterladbar auf https://journey-to-extremism.undp.org/.
[5] Erstellt von GL in leichter Abwandlung und Übersetzung der Grafik “Journey To Extremism In Africa“ in ebd. pp.82f.
[6] Al Shabaab-Mitglieder, die sich der African Union Mission in Somalia (AMISOM) ergeben haben, Garsale, nahe Jowhar, 80 km nördlich der Hauptstadt Mogadischu, Foto AMISOM Public Information 22.9.2012, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Al_Shabaab_fighters_disengage_and_lay_down_arms_07_(8019364808).jpg.
[7] Würde die Studie heute erstellt, wären Mali-Niger-Burkina Faso sicher ein Schwerpunkt.
[8] Al Shabaab-Mitglieder, die sich der African Union Mission in Somalia (AMISOM) ergeben haben, Garsale, nahe Jowhar, 80 km nördlich von Mogadischu, Foto AMISOM Public Information 22.9.2012, zugeschnitten von GL, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Al_Shabaab_fighters_disengage_and_lay_down_arms_02_(8019360780).jpg.
[9] Zu Boko Haram wird es hier bald einen Artikel geben.