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Umgang mit Terrorismus – Teil 2

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Foto: Binnenflüchtlinge in einem Lager in Barsalogho, 128 km Luftlinie nordnordöstlich der burkinischen Hauptstadt [1]

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Günther Lanier, Cherrueix (Bretagne) 14.9.2022[2]

* * *

Hier der angekündigte 2. Teil des Terrorismus-Kapitels unseres Anfang Mai erschienenen Sahel-Buches[3], geringfügig überarbeitet. Den 1. Teil habe ich letzte Woche ebenhier veröffentlicht[4]. Der erste Absatz überschneidet sich mit dem Teil 1.

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also: Wie umgehen mit Terrorismus? (Teil 2 von 2)

Günther Lanier

Nun wird der djihadistische Terrorismus im Sahel zwar sicher aus dem Ausland unterstützt, zum Beispiel vom Islamischen Staat, sowohl was Waffen, als auch was Finanzen und Personal und Knowhow betrifft. Doch lebt bei weitem nicht das ganze terroristische Netzwerk von solch “Entwicklungshilfe“ aus dem Ausland. Es handelt sich um ein dominant einheimisches Phänomen und sein Personal und auch seine Finanzierung sind ganz überwiegend einheimisch.

Wie alimentiert sich dieses System?

Terrorismus kostet Geld. Ich meine hier nicht die Behebung der Schäden, die er verursacht und auch nicht die Militärausgaben, die zu seiner Bekämpfung erfolgen[5]. Ich meine die Kosten auf der anderen Seite, auf Seite der TerroristInnen: Waffen, Nahrung, Fortbewegungsmittel, Telefonieren, Internet – all das kostet Geld. Das Institut für Sicherheitsforschung (ISS)[6] hat 2019 eine Studie veröffentlicht, die sich mit diesem Aspekt befasst: “Gewalttätiger Extremismus, organisierte Kriminalität und lokale Konflikte in Liptako-Gourma“[7]. Die Region Liptako-Gourma entspricht weitestgehend der Zone der 3 Grenzen (siehe das Oval auf der Karte oben), auf die sich die malischen, nigrischen und burkinischen terroristischen Angriffe konzentrieren[8].

Aus dieser ISS-Studie geht hervor, “dass die gewalttätigen extremistischen Gruppierungen die Struktur und die Verletzbarkeit lokalen Wirtschaftens ebenso zu nutzen verstehen wie Rivalitäten zwischen verschiedenen sozio-professionellen Gruppen und Mängel in der lokalen governance, um in ein Gebiet vorzudringen, dort Mitglieder zu rekrutieren und ihren Einfluss auszuweiten. Der Unsicherheit im grenzüberschreitenden Liptako-Gourma-Raum entgegenzuwirken bedarf des Überdenkens der lokalen governance und der sozio-ökonomischen Entwicklung sowie der grenzübergreifenden Zusammenarbeit, nicht nur zwischen den Staaten und ihren RepräsentantInnen auf lokaler Ebene, sondern auch zwischen den Gemeinschaften.“[9] Und nach jedem neuen Todesopfer reagieren die Autoritäten mit Diffamierungen der ja tatsächlich unmenschlichen Attacken, bringen jedoch nicht viel mehr als ihre Ohnmacht zum Ausdruck. Besser als die Verteufelungen ist ein Verstehen der GegnerInnen. Wobei die Verteufelung vor allem des islamistischen Terrorismus freilich auf globaler Ebene vorexerziert wird.

Gewalttätiger Extremismus ist in der Liptako-Gourma-Region engstens verquickt mit lokalen Konflikten und mit organisierter transnationaler Kriminalität. Letztere umfasst den Schmuggel mit legalen (Medikamente, Benzin, Motorräder, Zigaretten) oder illegalen (Drogen, Waffen) Waren sowie Diebstahl (insbesondere Viehdiebstahl), Wilderei und die Ausbeutung im Rahmen von handwerklichem Kleingoldbergbau. Lokale Konflikte können intra- oder intergemeinschaftlich sein[10] oder es können sich Bevölkerung und staatliche oder traditionelle Autoritäten gegenüberstehen. Dabei kann es um Ressourcen gehen (z.B. BäuerInnen vs. ViehzüchterInnen, JägerInnen gegen FörsterInnen, BäuerInnen gegen GoldabbauerInnen), um lokale Macht oder gegen die Sozialordnung oder es kann gegen die Vernachlässigung eines Gebietes und seiner BewohnerInnen durch den Staat gehen.

Ohne Waffen geht nichts. Neben selbstgebauten Minen handelt es sich vor allem um Kalaschnikows, leichte und schwere Maschinengewehre, Raketen- und Granatwerfer. Wurden die Waffen nicht bei Überfällen auf Armeekasernen erbeutet, so stammen sie von WaffenhändlerInnen und haben ihren Ursprung oft in den Rebellionen oder Konflikten der letzten paar Jahrzehnte in Mali, Niger, Liberia, Sierra Leone, Côte d’Ivoire und seit 2011 Libyen. Die Betätigung von Mitgliedern gewalttätiger extremistischer Gruppen selbst als WaffenhändlerInnen soll vorkommen, aber eher selten sein[11].

In Sachen Drogen geht es insbesondere um Cannabis, Tramadol (ein Opoid), Diazepam (Valium) und teils auch Kokain. Tramadol, Cannabis und Kokain wird auch von den Gruppenmitgliedern selbst konsumiert, besonders vor Attacken. Fast alle terroristischen Gruppen scheinen in den Handel mit Drogen involviert, lassen sich für ihren Schutz bezahlen oder erheben “Steuern“ auf den Transit der Ware durch “ihr“ Gebiet.

Motorräder sind das geeignetste Fortbewegungsmittel in den oft straßenlosen Gebieten. Sie brauchen weniger Benzin, sind leichter zu warten und billiger als allradangetriebene Autos. Diese Motorräder sollen vorwiegend aus Nigeria und Togo kommen. Außer Kasea, Royal und Haoujin werden in erster Linie Honda-Motorräder geschätzt – sie tragen sogar den Beinamen “Boko“ oder “Boko Haram“, denn sie werden von TerroristInnen bevorzugt, gelten sie doch als robust und leise. Am Handel mit Motorrädern scheinen terroristische Gruppen finanziell nicht beteiligt zu sein. HändlerInnen und andere KomplizInnen sind ihnen beim Erwerb der Motorräder behilflich.

Billiges Benzin kommt, meist in 25 Liter-Kanistern, aus Nigeria. Vom Benzin- wie vom Motorrad-Schmuggel profitiert eine erkleckliche Zahl von ZwischenhändlerInnen, die entlang ihrer Routen von InformantInnen vor allfälligen Kontrollen durch Polizei oder Zoll gewarnt werden.

[12]

Benzin wird meist von Einheimischen aus der näheren Umgebung gekauft und mit anderen Waren des täglichen Bedarfs (Reis, Öl und andere Nahrungsmittel, Kleidung, Telefone, SIM- und Wertkarten) in die Lager der TerroristInnen geliefert. Meist sind das KomplizInnen, teils tun sie es unter Zwang.

Der Viehdiebstahl wurde in der Liptako-Gourma-Region keineswegs von den TerroristInnen erfunden, er hat über die letzte Jahre aber einen Aufschwung erlebt. Tausende Rinder, Schafe und Ziegen werden nunmehr jährlich ihren rechtmäßigen BesitzerInnen entwendet. Das gestohlene Vieh wird teils selbst verzehrt, vor allem aber verkauft, an FleischhauerInnen in der Umgebung, in den Goldminen (wo auch viel andere illegale Ware gehandelt wird) oder (von KomplizInnen mit den nötigen Papieren für den Verkauf von Vieh) auf weiter entfernten Viehmärkten, auch im Ausland.

Um die finanziellen Mittel der TerroristInnen aufzustocken, braucht Vieh nicht unbedingt gestohlen zu werden. ViehzüchterInnen sehen sich teils gezwungen, zu ihrem Schutz eine “zakat[13] genannte Steuer zu entrichten – eine Praxis, die speziell in Nord-Tillabéri (Niger) und in der Provinz Oudalan (Burkina Faso) verbreitet ist.

In den nigrischen und burkinischen Teilen Liptako-Gourmas wird viel Gold handwerklich abgebaut. 2017 wurden allein in der Ost-Region Burkinas 53 solcher Goldabbaustätten gezählt. Die handwerkliche Goldproduktion der dort in Betrieb befindlichen 1.640 Schächte soll sich im Jahr davor auf 406 kg belaufen haben[14]. Wenn diese Schätzung stimmt, dann hätte das auf dem Weltmarkt 16,4 Mio. USD entsprochen[15]. Jedenfalls geht es um sehr viel Geld.

Terroristische Gruppen bemühen sich daher, die Kontrolle über die Abbaustätten zu erlangen und kümmern sich dann um ihre Sicherheit. Dafür zahlen ihnen die GoldgräberInnen eine “Steuer“. Teilweise kaufen sie auch selbst das abgebaute Gold auf. Schätzungen, wie viel Geld dabei für die TerroristInnen herausspringt, sind nicht verfügbar.

Was die Wilderei betrifft, hat die lokale Bevölkerung das Einrichten von Naturschutzgebieten und das damit einhergehende Jagdverbot oft als Willkür und Unrecht empfunden. Wenn TerroristInnen nunmehr die Erlaubnis zum Jagen erteilen, machen sie sich vor Ort viele FreundInnen. Für sie selbst bieten die staatlicherseits untersagte Jagd Nahrung und die Schutzgebiete zudem gute Verstecke – große, unbesiedelte und meist bewaldete Gebiete fernab staatlicher Sicherheitskräfte.

Der lokalen Bevölkerung zu ihrem Recht verhelfen gegen einen Staat, der sie übervorteilt und marginalisiert, wenn er sie nicht gänzlich vergessen hat oder sogar terrorisiert, ist ein wichtiger Bestandteil von Diskurs und Strategie terroristischer Gruppen, die so ihr Image aufpolieren und sich zu KämpferInnen gegen das bestehende und ja tatsächlich in vieler Hinsicht extrem ungerechte System stilisieren. Sympathie und lokale Unterstützung sind in ihrem Kampf überaus wertvolle Ressourcen, nicht nur, weil sie lokales Rekrutieren beträchtlich erleichtert.

Die Grenzen zwischen den verschiedenen terroristischen Gruppen sind oft fließend. Bei größeren Attacken können mehrere Gruppen kooperieren. Allianzen können sich wandeln, gegenseitige Unterstützung in Konkurrenz umschlagen.

Was intra- und inter-gemeinschaftliche und inter-professionelle Konflikte betrifft – ISS fasst sie als “lokale Konflikte“ zusammen – nehmen terroristische Gruppen sehr unterschiedliche Haltungen ein. Keineswegs ist es so, dass sie solche Konflikte immer und überall schüren, um vom resultierenden Unfrieden zu profitieren. Sie können neutral bleiben, sich explizit nicht einmischen. Oder sie betätigen sich als MediatorInnen oder SchiedsrichterInnen, ersetzen den viel zu oft in abgelegenen Gegenden abwesenden Staat in seiner richterlichen Funktion. Das nähert sie auch dem übergeordneten Ziel, immer größere und immer mehr Gebiete der oft nur nominell bestehenden nationalstaatlichen Kontrolle zu entziehen.

In Zentral-Mali und im Norden Burkinas stehen Peulh unter Generalverdacht, TerroristInnen zu sein[16]. Die Massaker von Yirgou (Region Centre-Nord/Burkina) und Ogossagou (nahe Bankass in Zentral-Mali) legen davon Zeugnis ab.

Betrachten wir die Ergebnisse der ISS-Studie, so ist klar, dass sich der Zentralstaat nicht zu wundern braucht, dass ihm manch UntertanIn abhanden gekommen ist. Wenn seine Sicherheitskräfte von der lokalen Bevölkerung über Anwesenheit und Aktivitäten der TerroristInnen nicht informiert werden, so mag das an der Angst liegen, die ebendiese TerroristInnen mit ihren Drohungen auslösen. Der Zentralstaat mag aber auch die Sympathien seiner UntertanInnen verspielt haben – durch brutales Vorgehen seiner Sicherheitskräfte oder durch sträfliche und anhaltende Vernachlässigung, ja Marginalisierung.

Wie wir gesehen haben, ist die Zusammenarbeit zwischen lokaler Bevölkerung und TerroristInnen oft eine Win-win-Situation, es profitieren beide Seiten. Dazu kommt auch noch das Geld, das arbeitslose oder unterbeschäftigte Jugendliche “verdienen“ können, wenn sie selbst TerroristInnen werden, sich rekrutieren lassen…

Die gegenseitige Verwobenheit lokaler Gemeinschaften und terroristischer Gruppen, ihr Naheverhältnis und ihr Zusammenarbeiten implizieren, dass betroffene Staaten nicht Krieg führen können, wie sie das gegen ihre Feinde sonst tun und dass ihre Sicherheitskräfte eine ganz andere Rolle haben als die gewohnte gegenüber Dieben und Mördern. Dass rein militärischer Kampf gegen den Terrorismus nicht erfolgreich sein kann, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Es sind nicht hundert Panzer, die in diesem asymmetrischen Krieg den Sieg bringen werden[17] und auch nicht hundert Flugzeuge. Das wissen und sagen mittlerweile auch Generäle und Verteidigungsministerinnen[18]. Freilich gelingt es immer wieder, den Chef einer terroristischen Gruppe zu liquidieren, ganz umsonst sind die hypermodernen Waffen der französischen und US-amerikanischen Armee ja auch wieder nicht – und dann wird gejubelt. Doch gibt es für solche Chefs Ersatz – und der wächst in der Regel so schnell nach, dass es vielleicht an der Zeit wäre, die Taktik zu wechseln.

Verhandlungen zwischen dem Staat und terroristischen Gruppen sollten kein rotes Tuch, sondern selbstverständlich sein. Zudem müssen RückkehrerInnen, ehemalige TerroristInnen, die sich lossagen und ein ziviles Leben wiederaufnehmen wollen, für dieses ausgerüstet werden – wozu auch ihre Deradikalisierung gehört[19].

Mit der militärischen Antwort auf den Terrorismus – die im Sahel deutlich dominiert – beschäftige ich mich nicht. Dass auch modernst ausgerüstete Militärs sowie Millionen und Abermillionen Euro oder Dollar nichts vermögen gegen Terrorismus, hat der rezente Abzug der Interventionstruppen der Satten Welt aus Afghanistan ebenso klargemacht wie das weitestgehende Versagen der französischen Barkhane-Operation im Sahel (siehe dazu die beiden Beiträge zum französischen Neokolonialismus und zu den Militärinterventionen in diesem Buch).

Was könnte funktionieren oder besser: Was funktioniert schon?

Idealerweise gälte es, den inneren Zusammenhalt von Gesellschaften wiederherzustellen, obwohl solches “Social Engineering” wohl kaum absichtlich bewerkstelligt werden kann. Als Beispiel denke ich hier an die Lobi im Südwesten Burkina Fasos und wie sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den militärisch haushoch überlegenen französischen Kolonialtruppen über Jahrzehnte erfolgreich Widerstand leisteten. Oder wie ein mir bekannter Fotograf bei einem rezenten Auftrag im Kasséna-Gebiet im Süden Burkinas, nahe der ghanaischen Grenze, ein paar Stunden auf der Gendarmerie verbringen musste bis seine Harmlosigkeit hundertprozentig außer Zweifel stand – sein in einer Tasche mitgeführtes fotografisches Material hatte den Verdacht aufmerksamer DorfbewohnerInnen erregt. Es ist wohl kein Zufall, dass die Kasséna, genau wie die Lobi, ursprünglich akephal organisiert waren, “kopf-“ also chefInnenlos“, da übernimmt einE jedeR Verantwortung für die Gemeinschaft.

Das UNDP-Programm, dem die oben referierte Studie entstammt, heißt “Gewaltsamem Extremismus vorbeugen“. Das drückt schon die zugrundeliegende Herangehensweise aus: Terrorismusbekämpfung (Counter-Terrorism/CT) tendiert zur Gewalt, zum Dreinschlagen und hat sich als ineffizient erwiesen. “Preventing Violent Extremism/PVE“ geht die Frage sehr viel holistischer an, wird zwar auch nicht ohne Waffengewalt auskommen, ist sich deren Problematik jedoch überaus bewusst und versucht, das Problem an der Wurzel zu lösen[20].

Eine solche Herangehensweise hat sich in der Theorie mittlerweile weitgehend durchgesetzt und sogar die Generäle spicken ihre Diskurse heutzutage mit der Notwendigkeit entwicklungspolitischer Maßnahmen. Mit der Ausnahme Mauretaniens (siehe das Mauretanien-Kapitel in diesem Buch) ist in der Praxis davon leider wenig zu merken. Freilich ist das Vorbeugen eine langwierige Angelegenheit. Vernachlässigte Regionen und ihre BewohnerInnen in ein System einzubeziehen, dessen ökonomische Logik sie schließlich nicht grundlos ausgeschlossen hat, sie auch mitprofitieren zu lassen, bedarf großer Anstrengungen (s. auch das Kapitel zur Entwicklungszusammenarbeit in diesem Buch) und vielleicht sogar einer grundsätzliche Umorientierung staatlicher Wirtschaftspolitik, widersprechen solche Interventionen doch den weltweit vorherrschenden neoliberalen Prinzipien.

Doch auch diesseits solch fundamentaler Eingriffe kann im Umgang mit Terrorismus nachgebessert werden. Das Zauberwort ist die schon erwähnte “Gemeinschaft“. Dort, wo der Staat versagt, wo er abwesend ist, “seine“ Bevölkerung vernachlässigt, seinen Aufgaben – insbesondere dem Sorgen für Sicherheit und Ordnung – nicht nachkommt, macht es einen großen Unterschied, wie gut die lokale Gemeinschaft funktioniert. Es braucht “community-led solutions“: Lösungen unter Führung der Gemeinschaft.

Das lässt sich an den beiden nigerianischen Bundesstaaten Bauchi und Gombe zeigen. Unmittelbare Nachbarn der von Boko Haram hauptbetroffenen Bundesstaaten Borno, Yobe und Adamawa, nicht weniger benachteiligt oder vom Zentralstaat vernachlässigt als diese, haben sie sich gegenüber terroristischen Angriffen dennoch als deutlich widerstandsfähiger erwiesen[21].

Als zentral haben sich dabei traditionelle und religiöse FührerInnen erwiesen. Ersteren verleihen ihre historischen Ursprünge eine Tiefe der Legitimität, die eine Mobilisierung der betroffenen Gemeinschaften sehr erleichtert. Zweitere sind aufgrund ihrer religiösen Expertise besonders qualifiziert, um die Fundiertheit des islamistischen Terrors zu hinterfragen. Die Ideologie ist eine unterschätzte Waffe von Terrorgruppen. Ihr Gewalt rechtfertigendes Narrativ zu dekonstruieren, ist von erheblicher Bedeutung.

Sowohl in Bauchi als auch in Gombe gibt es parallel zu den modern-staatlichen Strukturen Emirate, die sich in Bezirke, Gemeinden (wards) und Dörfer untergliedern. Die traditionellen FührerInnen sind auf ihrer jeweiligen Ebene ideal geeignet, sich um die Sicherheit zu kümmern. So wurde zum Beispiel in Yamaltu-Deba in Gombe ein Sicherheitskomitee gebildet, das von staatlicher und traditioneller Seite unterstützt wird. Ähnliche Komitees wurden in Funakaye, ebenfalls Gombe, gebildet, nachdem es in diesem Bezirk zu einer Boko Haram-Attacke gekommen war. Traditionelle FührerInnen haben dort zudem regelmäßig Treffen veranstaltet, wo die Sicherheitslage besprochen wurde und Gemeinschaftsmitglieder mit der Überwachung strategischer oder exponierter Orte beauftragt wurden.

Da die Hauptargumente islamistischer Terrorgruppen religiöser Natur sind, spielen beim Versuch, die Herzen und Köpfe der Gemeinschaftsmitglieder zu gewinnen, religiöse Autoritäten eine entscheidende Rolle, verfügen sie doch über das nötige Wissen, um zu widersprechen[22]. Dass Boko Haram gerade solche GegnerInnen überaus ernst nimmt, zeigt die erhebliche Zahl zwischen 2010 und 2013 in Nord-Nigeria ermordeter Geistlicher.

Dezidierte gemeinschaftsweite Ablehnung der terroristischen Version von Religion wird erleichtert durch das Wirken prominenter religiöser FührerInnen. In Bauchi hat Sheich Dahiru Usman Bauchi, ein angesehener Gelehrter der Tidschānīya (einer Sufi-Bruderschaft) Boko Haram immer wieder öffentlich kritisiert und widerlegt – mehrfache Versuche, ihn umzubringen, sind fehlgeschlagen. Auch haben religiöse Organisationen gezielt gegen Boko Haram sensibilisiert. Jama’atu Izalatu Bid’ah Wa Ikamatu Sunna (JIBWIS) und Jama’atu Nasrul Islam (JNI) sind von Gemeinde zu Gemeinde gezogen und haben im Zug einer Art Missionierung Gegen-Narrative zu jenen von Boko Haram verbreitet.

Angesichts der von Terrorgruppen praktizierten asymmetrischen Kriegsführung können sich kommunitäre Selbstverteidigungsgruppen oder traditionelle Vereinigungen von Jägern oft als effizienter erweisen als reguläre Sicherheitskräfte. Solche lokalen Selbstverteidigungsgruppen brauchen freilich klar definierte Regeln, die ihre Rechtsstaatlichkeit garantieren und die Zusammenarbeit mit den staatlichen Sicherheitskräften ermöglichen. Der große komparative Vorteil von kommunitären Selbstverteidigungsgruppen ist ihre intime Kenntnis der lokalen Verhältnisse. Ein Beispiel gelungener Zusammenarbeit mit den staatlichen Autoritäten lieferte die lokale Selbstverteidigungsgruppe Yan Banga in den Bezirken Kwami and Dukku (Gombe).

Im Umgang mit Terror sollten Staaten Samthandschuhe anziehen und ihre Militärs meist zurückpfeifen. Ein brutales Dreinschlagen kann viel Schaden anrichten, nicht so sehr, weil es zu einer Radikalisierung der TerroristInnen führen kann wie 2009 bei Boko Haram, als deren gefangengenommener Gründer Mohammed Yusuf von Sicherheitskräften ermordet wurde, sondern vor allem, weil vom Terrorismus hauptbetroffene Gemeinschaften allzu oft kollaterale Opfer solch brutalen Vorgehens sind. Nicht wissend, ob sie sich vor den TerroristInnen oder vor den staatlichen Sicherheitskräften mehr fürchten sollen, lassen sie sich leichter als TerroristInnen anwerben.

Aus zentralstaatlicher Sicht ginge es darum, den “Gesellschaftsvertrag“, den “Sozialkontrakt“ zu erneuern und zwar insbesondere mit den StaatsbürgerInnen in benachteiligten, oft entlegenen Gebieten. Deren Bedürfnisse gilt es zu berücksichtigen. Solange sie ignoriert werden, wird auch keine Zusammenarbeit gegen den Terror möglich sein, ja es kann durchaus rational und nachvollziehbar sein, dass sie sich auf die Seite der TerroristInnen schlagen.

Zum Abschluss Quantitatives.

Zahl der Terrorismus-Toten in den Sahel-Ländern während der letzten 50 bzw. der letzten 10 Jahre[23]

[24]

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(Teil 1 ist ebenhier in der Vorwoche erschienen)

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“Krisenregion Sahel. Hintergründe, Analysen, Berichte“[25] hat 256 Seiten, misst nach Verlagsangaben 14,8 x 21cm, kostet 22 Euro. Die Internationale Standardbuchnummer (ISBN) ist 978-3-85371-501-7. Abgesehen von den meinen stammen die Beiträge – in alphabetischer Reihenfolge – von Elisabeth Förg, Christoph Gütermann, Georges Hallermayer, Ishraga Mustafa Hamid, Birgit Mayerhofer, Tobias Orischnig, Werner Ruf, Markus Schauta, Franz Schmidjell, Mariam Wagialla und Charlotte Wiedemann.

Bestellungen auf https://mediashop.at/buecher/krisenregion-sahel/ oder im Fachbuchhandel.

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Sollten Sie Anfang Oktober in Wien oder Umgebung sein: Am 4. Oktober gibt es eine Präsentation des Buches – hier der Einladungstext:

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Einladung zur Buchpräsentation
Krisenregion Sahel

Dienstag, 4. Oktober 2022, 18:30 – 20:00
C3 – Centrum für Internationale Entwicklung
Sensengasse 3, 1090 Wien

Bei der Buchpräsentation wird der in Burkina Faso lebende Ökonom und Autor Günther Lanier über die aktuellen Entwicklungen im westlichen Sahel berichten. Die Mitautorin Ishraga Mustafa Hamid wird auf die heutige Stellung der Frauen im Sudan eingehen, die bei der Revolution 2018 an vorderster Linie standen. Weitere Mitautor*innen und Diaspora Vertreter*innen aus der Region werden eingeladen, auch lokale Lösungsansätze zu den vielfältigen Krisen aufzuzeigen und sich kritisch mit den europäischen Politiken gegenüber den Sahel-Staaten auseinander zu setzen.

Im Sammelband “Krisenregion Sahel” analysieren dreizehn Autor*innen die Situation den neun Sahel-Staaten. Thematische Beiträge behandeln unter anderem die Rolle des Islam, Landkonflik­te, Klimakrise und ethnische Spannungen. Gleichzeitig wird die europäische Mitverantwortung an den multiplen Krisen thematisiert. So werden die über 60 französischen Interventionen seit der Unabhängigkeit detailliert aufgelistet 

„Sahel“ bedeutet auf Arabisch „Ufer“ oder „Küste“ – gemeint ist das Südufer der Sahara, des großen Sand- und Steinmeeres. Dieses Sahara-„Ufer“ erstreckt sich vom Atlantik im Westen bis zum Roten Meer im Osten. Anteil am Sahel haben die Staaten Senegal, Mauretanien, Mali, Burkina Faso, Niger, Nigeria, Tschad, Sudan und Eritrea.

Wir freuen uns auf Deine/Ihre Anmeldung unter [email protected]

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Endnoten:

[1] Foto Lamine Traoré/VOA 15.1.2019, leicht überarbeitet GL, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Des_d%C3%A9plac%C3%A9s_peuls_sur_le_site_de_Barsalogho_au_petit_matin,_au_Burkina_Faso,_le_15_janvier_2019.png.

[2] Petra Radeschnig gilt – wie stets – mein herzlicher Dank fürs Lektorieren!

[3] Fritz Edlinger, Günther Lanier (Hg.), Krisenregion Sahel. Hintergründe, Analysen, Berichte, Wien (Promedia) 2022. Zu bestellen auf https://mediashop.at/buecher/krisenregion-sahel/.

[4] Zu finden unter https://www.africalibre.net/artikel/449-der-sahel-aus-der-nahe–einfuhrung-teil-1 bzw. Wien (Radio Afrika TV) 15.6.2022, https://radioafrika.net/der-sahel-aus-der-nahe-einfuhrung-teil-1/.

[5] Siehe UNDP, Measuring the Economic Impact of Violent Extremism Leading to Terrorism in Africa, Report 2019, New York (UNDP) 8.4.2020, https://www1.undp.org/content/undp/fr/home/librarypage/democratic-governance/measuring-the-economic-impact-of-violent-extremism-leading-to-te.html.

[6] Das 1991 gegründete Institut für Sicherheitsforschung ISS (Institute for Security Studies/Institut d’Etudes de Sécurité) hat seinen Sitz in Südafrika und weitere Büros in Kenia, Äthiopien und Senegal; https://issafrica.org/.

[7] William Assanvo, Baba Dakono, Lori-Anne Théroux-Bénoni, Ibrahim Maïga, Extrémisme violent, criminalité organisée et conflits locaux dans le Liptako-Gourma, ISS 2019, https://issafrica.s3.amazonaws.com/site/uploads/war-26-fr.pdf. Meine Darstellung folgt in vielem Günther Lanier, Ökonomie des Sahel-Terrorismus. Fokus Gourma-Liptako, Radio Afrika TV 18.12.2019. Nicht wiedergeben kann ich die schönen Grafiken/Karten der ISS-Studie zu Verteilung und Häufigkeit terroristischer Attacken 2012 bis 2019, die funktionieren nur in Farbe. Siehe diesbezüglich meinen Artikel oder die Studie.

[8] Was folgt, sollte keineswegs verallgemeinert werden. Terroristische Gruppen unterscheiden sich darin, wie sie agieren oder “regieren“ und der Kontext spielt auch eine erhebliche Rolle. Siehe dazu z.B. Natasia Rupesinghe, Mikael Hiberg Naghizadeh, The Sahel’s jihadists don’t all govern alike: context matters, The Conversation 14.9.2021, https://theconversation.com/the-sahels-jihadists-dont-all-govern-alike-context-matters-166998.

[9] William Assanvo et al., a.a.O., p.23, letzter Absatz der Conclusio.

[10] Siehe das Kapitel “Unter Generalverdacht. Die Fremden in unserem Inneren“ in diesem Buch.

[11] William Assanvo et al., a.a.O., pp.10f.

[12] Cover-Bild von William Assanvo et al., a.a.O., leicht überarbeitet und in Schwarz-weiß transformiert GL.

[13] Die “Läuterungsabgabe“. “Zakat“ bedeutet auf Arabisch “Reinheit, sich reinigen“. Zakat ist eine der fünf Säulen des Islam: Erwachsene, deren Vermögen einen Mindestwert (den nisab) überschreitet, sind verpflichtet, alljährlich 2,5% davon an bedürftige MuslimInnen abzugeben.

[14] Institut national de la statistique et de la démographie, Enquête nationale sur le secteur de l’orpaillage (ENSO). Principaux Résultats, 11.9.2017, p.6, http://www.insd.bf/n/contenu/enquetes_recensements/ENSO/Principaux_Resultats_ENSO.pdf.

[15] Berechnung GL. Bei einem durchschnittlichen Goldpreis von 1.258,56 US pro Feinunze (=31,1g) für 2017.

[16] Siehe abermals das Kapitel “Unter Generalverdacht. Die Fremden in unserem Inneren“ in diesem Buch. Die im nächsten Satz erwähnten Massaker von Yirgou und Ogossagou werden dort behandelt und auch Kain-Ouro, wo der burkinische Staat bzw. sein Heer kurz nach Yirgou ein Massaker vor allem unter Peulh angerichtet hat.

[17] Der burkinische Verteidigungsminister Aimé Barthélémy Simporé in einem von Netafrique.net wiedergegebenen Libreinfo.net-Artikel am 27.10.2021: “C’est pas forcément avoir 100 chars qui va vaincre le terrorisme“: https://netafrique.net/burkina-faso-cest-pas-forcement-avoir-100-chars-qui-va-vaincre-le-terrorisme-general-aime-barthelemy-simpore-ministre-de-la-defense-nationale/.

[18] Nicht erkannt hat das offenbar der nigrische Präsident, der für den asymmetrischen Krieg neben finanzieller vor allem militärische Hilfe verlangt. Siehe seine Rede beim afrikanischen Friedens- und Sicherheitsforum in Dakar: Mohamed Bazoum, “Comment nous éradiquerons le terrorisme“, Jeune Afrique 6.12.2021 um 18h56, https://www.jeuneafrique.com/1277316/politique/mohamed-bazoum-comment-nous-eradiquerons-le-terrorisme/.

[19] Siehe dazu z.B. Jeannine Ella Abatan and Remadji Hoinathy, Getting Goudoumaria right: are Boko Haram defectors reintegrating safely? ISS 8.12.2021, https://issafrica.org/iss-today/getting-goudoumaria-right-are-boko-haram-defectors-reintegrating-safely.

[20] In diesem Absatz und den folgenden zitiere ich abermals immer wieder aus Günther Lanier, Wo es keine Perspektive gibt: Boko Haram oder das Versagen des Anti-Terror-Kampfes, Wien (International/Im Fokus 3/2021) 16. April 2021; herunterladbar unter https://international.or.at/wp-content/uploads/2021/04/ImFokus_3_2021-end.pdf.

[21] Ich stütze mich auf Akinola Olojo, Making sense of resilience in the Boko Haram crisis, Institute for Security Studies/ISS West Africa Report Nr.30, Juni 2020, https://issafrica.s3.amazonaws.com/site/uploads/war-30.pdf. Für die Studie wurden insbesondere 307 Interviews in 22 Bezirken (local government areas/LGAs), je 11 pro Bundesstaat (in Gombe gibt es nur 11 LGAs, in Bauchi 20) geführt.

[22] Zur wichtigen Rolle religiöser FührerInnen in Nouakchotts überraschend erfolgreichem Kampf gegen den Terror siehe abermals das Mauretanien-Kapitel in diesem Buch.

[23] Berechnet nach Daten der Globalen Terrorismus-Datenbank (GTD): https://gtd.terrorismdata.com/files/gtd-1970-2019-4/ von GL.

[24] Die Daten jedes einzelnen Landes bedürften einer eigenen Interpretation. N.B.: Die Daten reichen nur bis Ende 2019. In Burkina Faso z.B. ist die Zahl der Terrorismus-Toten bis November 2021 auf circa 2.000 angestiegen, hat sich also in etwa verdoppelt. In den fünf in diesem Beitrag hauptsächlich behandelten Ländern wurde der ganz überwiegende Teil der Terrorismus-Toten innerhalb der letzten 10 Jahre verzeichnet. Das gilt auch für Kamerun (2.863 von 2.977 Toten), das wir in diesem Buch nicht mitbehandeln, das aber von Boko Haram mitbetroffen ist (2.443 Tote gehen dort auf das Konto von Boko Haram – in Nigeria sind es 19.240).

[25] Ich habe auf das Buch hier schon öfter verwiesen: https://radioafrika.net/ein-buch-zum-sahel-taufrisch/ sowie https://radioafrika.net/informationen-zu-unserem-anfang-der-vorwoche-herausgekommenen-sahel-buch/ bzw. https://www.africalibre.net/artikel/433-ein-buch-zum-sahel–taufrisch sowie https://www.africalibre.net/artikel/434-informationen-zu-unserem-anfang-der-vorwoche-herausgekommenen-sahel-buch.
Außerdem habe ich hier im Juni das Einleitungskapitel dieses Buches in zwei Teilen veröffentlicht:
Der Sahel aus der Nähe – Einführung, Teil 1, 15.6.2022, https://www.africalibre.net/artikel/449-der-sahel-aus-der-nahe–einfuhrung-teil-1 bzw. https://radioafrika.net/der-sahel-aus-der-nahe-einfuhrung-teil-1/.
Der Sahel aus der Nähe – Einführung, Teil 2, 22.6.2022, https://www.africalibre.net/artikel/450-der-sahel-aus-der-nahe–einfuhrung-teil-2 bzw. https://radioafrika.net/der-sahel-aus-der-nahe-einfuhrung-teil-2/.

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