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Moudawana – die versuchte Revolution aus dem Herzen der Familie

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Frauengruppe bei einem Festival in Ouarzazate, Marokko [1]

* * *

Günther Lanier, Ouagadougou 3.5.2023[2]

* * *

Es gibt gesetzliche Bestimmungen, die von der Wirklichkeit längst überholt sind, es gilt, sie anzupassen.

Eine 2022 gebildete Arbeitsgruppe hat den König, der dies bei seiner Rede anlässlich des 23. Jahrestages seiner Thronbesteigung am 30. Juli 2022 forderte, beim Wort genommen, hat ein 54-seitiges Dokument herausgegeben[3], “Libertés fondamentales“ genannt, was wörtlich “grundsätzliche Freiheiten“ bedeutet, meist mit “Grundrechte“ übersetzt wird.

Diese 54 Seiten sind in einer Gesellschaft, die konservativer als ihr Monarch und zudem islamistisch durchsetzt ist, von beträchtlicher Sprengkraft. Im Vorwort wird die Treue gegenüber M6 (wie Mohammed VI gerne genannt wird) sowie die Konformität mit dem Koran – schließlich ist M6 auch der spirituelle Führer seiner UntertanInnen – betont und unterstrichen. Mehrere anerkannte Oulémas (islamische Gelehrte/Experten) seien im Vorfeld zu Rate gezogen worden.


Frau in Marrakech [4]

Die Arbeitsgruppe schlägt Verbesserungen[5] in vier Bereichen vor: Verfassung, Moudawana (code de la famille – Familienrecht), Strafrecht, Staatsbürgerschaftsrecht. Die 2011 beschlossene Verfassung, das mittlerweile 60 Jahre alt gewordene Strafrecht[6], das vor 19 Jahren “revolutionäre“ Familienrecht vom 5. Februar 2004, sie alle bedürfen der Überarbeitung. Wobei – wohl um den Eindruck umstürzlerischer Intentionen vorzubeugen – betont wird, was für eine ganz fundamentale Rolle die Familie beim Aufbau einer modernen und erfolgreichen Nation spielt[7].

Mitglieder der Arbeitsgruppe – sie nennen sich im Dokument auch “Plattform“ – sind Asma Lamrabet, Driss Benhima, Yasmina Baddou, Jalil Benabbes Taarji, Khadija El Amrani, Chafik Chraibi, Monique Elgrichi, et Mohamed Gaizi.

Asma Lamrabet zuliebe habe ich das Foto einer Frau in den Straßen von Marrakech gewählt (von ihr selbst habe ich kein gemeinfreies Bild gefunden, auch wenn es am Netz genug Fotos von ihr gibt, meist mit Kopftuch und dem look einer lieben Oma). Sie scheint mir die Herangehensweise der Arbeitsgruppe rein optisch zu verkörpern: Hinter einem konservativ-braven Äußeren verbirgt sich eine revolutionäre Pragmatikerin. Die 1961 geborene Medizinerin ist eine muslimische Feministin mit einer beeindruckenden Publikationsliste – alle ihre Bücher drehen sich um die Frauen und den Koran/Islam[8].

Auch die anderen Mitglieder der Arbeitsgruppe sind in Marokko keine Unbekannten. Driss Benhima war Chef des staatlichen E-Werks, dann Minister, Yasmina Baddou Staatssekretärin, dann Gesundheitsministerin, Jalil Benabbes Taarji ist Generaldirektor der Tikida-Gruppe (Hotels usw.) und war bis vor kurzem Präsident der Vereinigung nationaler Tourismusunternehmen (ANIT), Khadija El Amrani ist Chefin einer AnwältInnenkanzlei, Chafik Chraibi Gynäkologie-Professor in Rabat, er hat mehrmals in der Frage der Abtreibung für Skandale gesorgt hat[9], Monique Elgrichi ist Gründerin und Generaldirektorin der Kommunikationsagentur Mosaïk und Mohamed Gaizi Direktor des Nationalen Fischerei-Amtes. Eine breit aufgesetzte Plattform also.


Mitglied der Plattform, frühere Gesundheitsministerin Yasmina Baddou [10]

In ihrem Vorschlag behandeln diese acht die Verfassung (pp.9f.), die Moudawana (das Familienrecht: pp.11-33), das Strafrecht (pp.34-50), den Strafverfahrens-Code (pp.51f.), das Staatsbürgerschaftsrecht (p.53) und die Arbeit von Frauen im Handel mit Alkohol (p.54).

Vorgeschlagen werden unter anderem die Entkriminalisierung sexueller Beziehungen außerhalb der Ehe[11] sowie die Entkriminalisierung der Abtreibung, die Pflicht für Väter, ihre außerhalb der Ehe geborenen Kinder anzuerkennen[12], den Vorrang von Geldstrafen vor Inhaftierung für Blasphemie, die Abschaffung der Todesstrafe.

Zweifellos ein gefundenes Fressen für Angriffe von konservativer, angeblich den Islam und den Koran schützender Seite.

Dann geht es um Erbrecht (gefordert wird ein vorsichtiges, schrittweises Zubewegen auf eine Gleichbehandlung für Erben und Erbinnen, da wo praktiziertes Recht nicht den Koran, sondern die Herrschaft des Patriarchats spiegelt), Kinderheirat (diese ist seit 2004 verboten, allerdings mit der wichtigen und vielfach in Anspruch genommenen Ausnahme, dass auf Antrag der Eltern FamilienrichterInnen Genehmigungen für das Verheiraten Minderjähriger (in der Praxis zuallererst Mädchen) erteilen können), gesetzliche Vertretung Minderjähriger (die statt vom Vater alleine von beiden Eltern gleichermaßen ausgeübt werden soll[13]), Meinungsfreiheit (diesbezüglich bedürfen die geltenden Bestimmungen der Präzisierung und Klarheit, da die derzeitige Unschärfe RichterInnen zu große Freiheit lässt[14]), sexuelle Belästigung und Gewalt in der Ehe (bisher müssen die Opfer selbst die Strafverfolgung einleiten, wozu sie oft nicht fähig sind; stattdessen sollen Polizei/Justizbehörde/MediatorIn/Staatsanwaltschaft verpflichtet werden, ein Strafverfahren einzuleiten und den Opfern familiärer Gewalt Sicherheit zu bieten[15]), Staatsbürgerschaft (eine Ausländerin, die einen Marokkaner heiratet, kann nach fünf Jahren Aufenthalt im Land die Staatsbürgerschaft beantragen; das muss auch für einen Ausländer gelten, der eine Marokkanerin heiratet[16]). U.v.a.m[17].


traditionelle Hochzeit in Marokko Anfang der 1940er Jahre [18]

Ein mutiger Vorstoß[19].

Die acht UrheberInnen der “Libertés fondamentales“ machen sich keine Illusionen, was die vollständige Umsetzung betrifft. Sie wollen aber nichts unversucht lassen und vor allem die Diskussion anregen und voranbringen. Das ist ihnen – wohl auch wegen der sanften Unterstützung von M6 im Hintergrund – bereits gelungen.

* * *

Endnoten:

[1] Foto Brahim Faraji 25.6.2019, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Women_group_in_Traditional_festival_in_Ouarzazate,_Morocco_by_Brahim_FARAJI.jpg.

[2] Petra Radeschnig gilt – wie stets – mein herzlicher Dank fürs Lektorieren!

[3] Herunterladbar auf https://medias24.com/2023/03/13/libertes-fondamentales-les-propositions-de-reforme-dun-collectif-dexperts/. Alle folgenden Seitenangaben beziehen sich auf dieses Dokument.

[4] Foto Thomas Leuthard 8.2.2013, leicht überarbeitet GL, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Woman_of_Marrakesh,_Morocco_(2).jpg

[5] Sie sprechen von ajustements, also Anpassungen, Justierungen. Siehe ebd. p.7.

[6] 26. November 1962.

[7] Im Original (p.7 und abermals p.8): “(…) le rôle fondamental qu’occupe cette dernière dans l’édification d’une nation moderne et prospère“.

[8] Siehe z.B. http://asma-lamrabet.com/publications/.

[9] Diese ist in Marokko nur gestattet, wenn es gilt, das Leben der Mutter zu retten.

[10] Foto Magharebia 25.7.2011, zugeschnitten GL, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Yasmina_Baddou.jpg.

[11] Gemäß Artikel 490-491 des Strafgesetzes von 1962 gibt es dafür Gefängnis.

[12] Laut p.30 werden täglich circa 200 Kinder außerhalb der Ehe geboren. Diese erleiden vielfache Benachteiligung aufgrund der Nichtanerkennung ihrer Abstammung. Der Artikel 148 des Strafrechtes muss die Gleichwertigkeit innerehelicher und außerehelicher Abstammung instituieren.

[13] Das wird auf p.26 unter “tutelle légale“, also “gesetzlicher Vormundschaft“ abgehandelt, aus dem dann folgenden Text wird aber klar, dass unter dem Begriff in Marokko offenbar Anderes gemeint ist.

[14] P.42 spricht diesbezüglich vom “Damoklesschwert“ drastischer Strafen für MarokkanerInnen.

[15] Die AutorInnen sind sich der Überforderung der Polizei in dieser Beziehung bewusst und haben deswegen MediatorIn und Staatsanwaltschaft hinzugefügt. Siehe pp.51f.

[16] Zu ändern ist der Artikel 10 des Staatsbürgerschaftsgesetzes. Siehe p.53.

[17] Den Abschluss des Grundrecht-Dokuments macht kurioserweise eine Bestimmung, die es Frauen erschwert, mit Alkohol zu handeln. Siehe p.54.

[18] FotografIn unbekannt. Hochgeladen am 21.5.2013 von http://schizo-sexy-voice.blogspot.fr/2011_05_01_archive.html. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Mariage_traditionnel_au_Maroc_au_d%C3%A9but_des_ann%C3%A9es_1940.jpg.

[19] Auf die Spur der acht und ihres Dokuments hat mich gestern Dienstag ein Jeune Afrique-Artikel von Achraf Tijani gebracht (https://www.jeuneafrique.com/1436750/societe/sexualite-liberte-de-conscience-le-maroc-doit-evoluer/); interessanter ist ein Hespress-Artikel vom 15.3.2023 (https://fr.hespress.com/305959-moudawana-heritage-avortement-mariage-des-mineurs-un-collectif-presente-une-vision-revolutionnaire.html). Dort wird für das Dokument die Beschreibung “audacieux“ verwendet, also “kühn, verwegen, wagemutig“. Hespress ist ein marokkanisches Internet-Journal, nach Eigendefinition des Landes erstes.

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