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Komorische Opfer des Pariser Visa-Regimes

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Foto: Frauen fischen vor der Küste Anjouans/Nzwanis [1]

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Günther Lanier, Ouagadougou 10. Jänner 2024[2], Einleitung, dann Übersetzung des Club Soirhane-Artikels von Afrique XXI

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70 km Meer liegen zwischen der Südspitze Anjouans und der Nordspitze Mayottes. Das ist doppelt so viel wie der Ärmelkanal an seiner schmalsten Stelle misst. Und fünf Mal so viel wie die Straße von Gibraltar.

“Eigentlich“ gehört Mayotte zu den Komoren. Doch während der Rest des komorischen Archipels 1975 unabhängig wurde, entschieden sich die BewohnerInnen von Mayotte (taten sie das wirklich?) per Referendum gegen die Befreiung und sind heute ein französisches Übersee-Département. Im Vergleich zu seinen Schwesterinseln hat das Mayotte einen allerdings sehr relativen Reichtum eingebracht.

Die Komoren bestehen aus – abgesehen von Mayotte – drei Hauptinseln: Grande Comore/Njazidja im Nordwesten mit der Hauptstadt Moroni, Mohéli/Mwali im Süden und Anjouan/Nzwani im Südosten. Zusammen haben die drei gebirgigen Inseln vulkanischen Ursprungs eine Fläche von 1.862 km2, auf denen ungefähr 850.000 KomorerInnen, leben, mehr als 450 pro km2. Die Muttersprache fast aller ist das dem Swahili verwandte Komorisch, wobei auf jeder der drei Inseln ein eigener Dialekt gesprochen wird. Amtssprachen sind neben Komorisch noch Arabisch und Französisch.

Im Zentrum des folgenden Artikels steht Anjouan/Nzwani, auf dessen 424 km² (das entspricht der Größe Wiens) die Bevölkerungsdichte noch einmal höher ist.


Afrique XXI, eine für Frankophone überaus empfehlenswerte Online-Zeitschrift (https://afriquexxi.info/), die sich kritisch mit Afrikanischem auseinandersetzt, hat Ende Dezember einen Artikel publiziert, den ich hier in der Folge übersetze. Es handelt sich um den vom Club Soirhane verfassten “Comores. Les victimes silencieuses du «visa Balladur»“ vom 29.12.2023, https://afriquexxi.info/Comores-Les-victimes-silencieuses-du-visa-Balladur.

Afrique XXI und insbesondere dem Koordinator seines Redaktionsstabes Rémi Carayol gilt mein herzlicher Dank für die Erlaubnis, den Artikel zu übersetzen. Die Foto-Auswahl – für die Original-Bilder habe ich die Rechte nicht – geht allein auf meine Kappe.

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Komoren. Die stillen Opfer des ‘Balladur-Visums’

ZeugInnenaussagen. Seit der Verhängung des Balladur-Visums 1995 sterben jedes Jahr Hunderte von KomorerInnen auf dem Meeresarm, der die Inseln Anjouan und Mayotte trennt. Ein kollektives Drama, das man meist zu verschweigen vorzieht. Die Jugendlichen des Club Soirhane haben beschlossen, mit diesem Gesetz des Verschweigens zu brechen, indem sie ZeugInnenaussagen gesammelt haben derer, die zu leben fortfahren trotz des Verlustes.

Neokolonialismus > Internationale Beziehungen > Club Soirhane > 29. Dezember 2023

https://afriquexxi.info/Comores-Les-victimes-silencieuses-du-visa-Balladur

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kwassa kwassa [3]

Die ZeugInnenaussagen, die hier veröffentlicht werden, sind im Oktober 2023 in der Revue Incise Nr.10 (T2G-Verlag) und in Les Nouveaux Cahiers pour la folie Nr.13 (Epel-Verlag) erschienen.

Die Einleitung ist von Mohamed Anssoufouddine und Patricia Janody.

Es sind Kinder, die schreiben. Sie berichten von einer unmöglichen Überfahrt, einem tödlichen Übersetzen, demjenigen über den Meeresarm zwischen den Inseln Anjouan und Mayotte, den man hierzulande den “Balladur-Friedhof“[4] nennt. In verkürzender Eloquenz wird so die ganze tragische Geschichte offenbart, die aus der willkürlich verordneten Grenze entstand. Es handelt sich um die Zwangsangliederung Mayottes an Frankreich (die Zählmethode für die Stimmzettel des 1975er Referendums wird seitdem von der UNO in Zweifel gezogen), die für den komorischen Archipel eine Spaltung einführte: auf der einen Seite die Union der Komoren, die aus Grande Comore, Anjouan und Mohéli besteht, auf der anderen Seite Mayotte, die zum französischen Département geworden ist.

Über viele Jahrhunderte war es üblich, von einer Insel zur anderen überzusetzen, um Handel zu treiben, sich zu verheiraten, die Toten zu begraben, den Geist der Monde zu feiern…[5] Seit die Visumspflicht 1995 verkündet worden ist, haben die KomorerInnen nicht mit diesen Reisen aufgehört, aber sie sind nunmehr blinde Passagiere. Gefangen in einem schmutzigen Handel mit Körpern, bei dem sie ihre Überfahrt in den kwassa versilbern müssen, in diesen zerbrechlichen, überlasteten Booten, dabei Repressalien der Polizei ebenso ausgesetzt wie Schiffbrüchen.

Fast alle Familien sind davon betroffen, aber kaum jemand spricht darüber. Man weiß nicht, wie sich auf sie beziehen, diese Toten, deren Körper mehrheitlich nicht gefunden worden sind. Womit die Willkür der politischen Grenze verstärkt wird durch eine Grenze des Verschweigens. Und mit den kwassa-Überfahrten wird weitergemacht und die absurden Tode vervielfachen sich. Unweigerlich?

ZeugInnen-SchleuserInnen

Wir können darauf warten, dass sich die Bewusstheit der Mächtigen schärft. Dabei bestünde Gefahr, dass wir lange warten müssen. Wir können uns auch weigern zu warten und ab sofort einen alternativen Kreislauf schaffen zu dem der Visa und kwassa. Die Jugendlichen des Club Soirhane (siehe ihre Namen am Artikelende) haben beschlossen, sich dem stillschweigenden Aufrechterhalten des Unvermeidbaren zu verweigern. Auch sie sind zu SchleuserInnen geworden, aber einer anderen Art als die der Illegalen: SchleuserInnen von ZeugInnen. Von Jahr zu Jahr sind sie immer weiter vorgestoßen beim Ergreifen des Wortes in der größten Hitze des Intimen und des Politischen. Und unter Mitwirkung ihrer MentorInnen haben sie zwei Bände publiziert, die an die sensiblen Teile der kollektiven Geschichte rühren[6].

Dann haben sich die Unter- und OberstuflerInnen des Club Soirhane noch einen Schritt weiter vorgewagt zu einem a priori unmöglichen Unternehmen: eine die Meerestoten betreffende Sammlung von ZeugInnenaussagen. Sie haben sich daran gemacht, ihren NachbarInnen im Dorf zuzuhören bezüglich dessen, was alle sich zu verschweigen mühten. Und in der Tat ist es ihnen gelungen. Zweifellos, weil sie den Elan ihre Jugendlichkeit in die Waagschale geworfen haben. Aber vielleicht auch, weil sich ihr Forschen mit einer Form kollektiven Schreibens entwickelte, das von Hand zu Hand herumgereicht werden konnte.


Karte der Insel Anjouan, Mayotte am nächsten gelegen [7]

Es sind Kinder und Jugendliche, die schreiben – es ist nötig, es zu wiederholen. Mit ihren Worten verwandeln sie sich in SchleuserInnen, ZeugInnen für die ZeugInnen. Mit ihren Formulierungen, mit ihrem Sinn fürs Erzählen, manchmal dem Rhythmus der Märchen nahe. Es gilt zu unterstreichen, dass sie doppelte Übersetzungsarbeit leisten. Zum einen vom Mündlichen zum Geschriebenen, wenn sie Gesagtes notieren, um es geschrieben wiederzugeben. Zum anderen von Sprache zu Sprache. Komorisch ist ihre erste Sprache, während das aus der Kolonialgeschichte stammende Französisch in der Schule gelernt wird. Das ist das Mindeste, dass sie sie ein bisschen neu erfinden, diese französische Sprache, dass sie ein paar syntaktische Konturen verschieben, dass sie den Vorrat gebrauchsfertiger Ausdrücke reinterpretieren – womit sie daran erinnern, dass Sprachen niemandem gehören und sich nicht um politische Grenzen scheren.

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Schwimmen, bis man die Beine nicht mehr spürt

Mit 17 Personen an Bord bricht in der Nacht des 7. Juli 2001 eine kwassa von Mirontsy (im Norden von Anjouan, Red.) auf mit Mayotte als Ziel. Um circa 22 Uhr durchquert ein Gemunkel das Dorf. Das Gerücht verbreitet sich, dass die kwassa gekentert ist. Im Dorf herrscht Panik. Alle wachen auf. Wissen nicht, wohin mit sich. Und wir stecken mitten in der Embargo-Zeit[8]. Keinerlei Kommunikationsmittel, kein Strom, kein Benzin zum Suchen der Toten. Die Nacht ist lang für alle DorfbewohnerInnen. Das Dorf wacht, die Herzen beklommen, traurig, angsterfüllt.

Am Tag darauf, in der Morgendämmerung, bestätigt sich das Gerücht. Die gekenterte kwassa ist diejenige, die von Mirontsy abgelegt hat. Vier haben überlebt, drei von Mirontsy und eine.r von Barakani. Also sind viele gestorben (kwassa sind immer überfüllt, mit bis zu dreißig PassagierInnen). Eine Gruppe von DorfbewohnerInnen gehen die Küste ab, um die Leichen zu suchen. Aber nur drei werden gefunden. Die werden ins Dorf gebracht, gewaschen und hergerichtet, dann begraben. Das ganze Dorf trauert. Die Angehörigen und FreundInnen weinen. Noch hofft das Dorf, andere Überlebende des Schiffbruchs zu finden.

Die Schiffbrüchigen wollten auf die Schwesterinsel Mayotte, jede und jeder einzelne hatte ihren oder seinen eigenen Grund dafür. Frau B. fuhr, um ihren Mann zu besuchen, Frau J. wollte nach Hause zurück, denn sie lebte dort, Herr S. wollte sich wegen seiner französischen Papiere erkundigen. Bis heute wurde leider kein.e einzige.r weitere.r Überlebende.r gefunden, auch keine weitere Leiche.

Den Leuten die Möglichkeit zu geben, dass ihnen jemand zuhört, was diese Tragödie betrifft, die des Balladur-Friedhofs, hat uns bis zu Frau C. getrieben, eine der Überlebenden. Sie wollte aus medizinischen Gründen nach Mayotte. Wissend, dass bei dieser wie bei allen Überquerungen des (etwa 70 km breiten, Red.) Meeresarmes, der die beiden Inseln trennt, das Schlimmste passieren konnte. Sie war schon Mutter und die Vorstellung, dorthin zu müssen, machte ihr Angst. Trotz der vielen Gebete kenterte die kwassa kwassa. Eine Welle kippte sie um. Rette sich, wer kann. Alle versuchten, sich an etwas festzuhalten, schlugen um sich. Was Frau C. betrifft, konnte sie sich an einem Kanister festhalten. Sie versuchte zu überleben. Sie wollte nicht ein weiteres Opfer sein. Sie dachte an ihren Kleinen und wollte absolut nicht, dass er ohne Mutter aufwächst.

Unterwegs überwältigte sie eine Welle und als sie wieder zu sich kam, hielt sie keinen Kanister mehr in ihren Händen. Es blieb ihr nichts übrig als zu schwimmen. Sie schwamm und schwamm bis sie ihre Beine und ihre Füße nicht mehr spürte. Unterwegs stieß sie erneut auf Überlebende, zwei Männer. Sie schlugen ihr vor, beieinander zu bleiben und sich gemeinsam durchzuschlagen. Sie war weit geschwommen und wollte Unbekannten keinesfalls vertrauen. Man kennt die Leute nie gut genug. Man muss auf der Hut sein, denn niemand ist gut. Sie schwamm weiter, ohne Orientierungspunkt. Versuchte aber, sich eine Richtung vorzugeben. Sie schwamm stundenlang.

Da sie weiter kein Festland sah, begann sie, die Hoffnung aufzugeben. Doch sie erreichte einen Strand. Leer. Sie sah niemanden. Nur in der Ferne ein Feuer. Sicher Leute, die ein Lagerfeuer angezündet hatten. Sie konnte keinerlei Schrei ausstoßen. Hatte keine Energie mehr. Konnte nur dem Himmel danken, dass sie am Leben war. Den Tod zu streifen, ist keine leichte Sache. Sie stand unter Schock. Diese Dame zog uns dann die Ohren lang, sagte uns, dass sie nur überlebt hatte, weil sie schwimmen konnte. Lernt also schwimmen!


Blick über Mutsamudu hinaus aufs Meer gegen Nordwesten [9]

Madame D., eine weitere Überlebende, vertraute uns an, dass ihr Fall ein Rätsel bleibt. Sie war damals noch ein kleines Mädchen. Nach dem Unfall waren die BootsinsassInnen im Wasser verstreut. Es war finster, niemand konnte die anderen sehen. Man konnte nur hören. Von überallher kamen Schreie. Dann war sie allein und schwamm. Sie spürte die Müdigkeit, ihre Kräfte begannen sie zu verlassen. Plötzlich tauchte ein leuchtender Fisch vor ihr auf. Ohne nachzudenken folgte sie diesem Fisch, schwamm mit ihm bis sie festes Land erreichte. Man fand sie am Ufer, bewusstlos, mit einem Fisch in den Händen. Nachdem sie zu sich gekommen war, weigerte sie sich, sich von diesem Fisch zu trennen.

Frau X., eine unserer Mütter, hat ihren Mann bei dieser Tragödie verloren. Sie erzählte uns, wie sie diesen Verlust erlebt hat. Ihr verstorbener Mann war an jenem Tag der Kommandant der kwassa. Er hatte viel Erfahrungen mit den Überquerungen nach Mayotte. Alle im Dorf kannten ihn. Er hatte schon mehrere Schiffbrüche überlebt, niemand konnte sich vorstellen, dass diese seine letzte Überfahrt sein würde. Sein Verschwinden hat alle überrascht. Seine Familie, die ihm Nahestehenden, fast das ganze Dorf hoffte, ihn eines Tages wiederzufinden, wo doch einige, die nicht schwimmen konnten, überlebt hatten. Manche erzählten, dass es in der Tat er war, der ihnen geholfen hatte, ans Ufer zu kommen. Dass er noch einmal umgekehrt war, um anderen Gekenterten zu helfen. Sein Körper wurde nie gefunden.

Frau X. hat uns anvertraut, wie dieses Ereignis ihr Leben radikal verändert hat. Sie fand sich in einer überaus prekären Lage wieder, musste gleichzeitig Arbeit suchen und sich nun alleine um ihre Kinder kümmern. Als sie uns ihre Geschichte erzählte, sah sie so tieftraurig aus! Sie schien die Tragödie noch einmal zu erleben. Trotzdem hat sie sich bemüht, ihre Emotionen mit uns zu teilen. Sie hat uns anvertraut, dass sie sich nachher erleichtert gefühlt hat, in gewissem Sinn befreit.

Die Tragödie des 7. Juli 2001 war nicht die erste. Und sie war leider nicht die letzte. Bis heute hat das Balladur-Visum nicht aufgehört, den Meeresfriedhof zwischen Anjouan und Mayotte zu vergrößern.

Die Leichen über Bord werfen

Die Geschichte beginnt an den Gestaden Domonis (im Südosten Anjouans, Red.), wo ein Boot in der Nacht ablegte. Diese kwassa hatte 25 Personen an Bord, Frauen, Männer und Kinder. Sie stachen in See in der Hoffnung, die Nachbarinsel Mayotte zu erreichen, aber diese Hoffnung währte nicht lange, denn die beiden Motoren fielen auf halbem Weg aus. Stellen Sie sich die Panik vor, die nach und nach die Insassen ergriff! Die Kommandanten versuchten, die Motoren zu reparieren, aber umsonst. In den Augen war ein Schwall Angst erkennbar, Schreie und Weinen waren überall zu hören. Sie steckten fest in der Mitte dieser weiten Wasserfläche, ohne Möglichkeit voranzukommen oder umzukehren. Sie waren den Wellen ausgeliefert, die sie mitnahmen, weit weg von jeder festen Erde.

Tage vergingen, dabei hatten sie nur einen einzigen Kanister Wasser und ein paar Kipferln, die einer der Passagiere mitgenommen hatte. Jede.r im Boot hatte nur Anrecht auf einen Schluck Wasser pro Tag. Der wurde mithilfe der kleinen Verschlusskappe des Kanisters bemessen. Die Tage reihten sich aneinander, der Hunger wurde unerträglich. Von Tag zu Tag wurden die Überlebenden an Bord weniger. Um das Boot nicht unnötig zu belasten, sah man sich genötigt, die Leichen über Bord zu werfen. Am 17. Tag lebten nur mehr fünf Personen, drei Männer und eine Frau, die ein kleines, ungefähr sechs Jahre altes Mädchen mithatte. Doch dann verschied die Frau. Als die drei Männer ihren Körper ins Meer werfen, gaben sie Acht, dem Kind diese tragische Szene zu ersparen.

Der Mann, der die Kipferln und den Wasserkanister mitgenommen hatte, nahm nach dem Tod der Mutter das Kind in Schutz. Am 19. Tag – er hatte die zwei verbleibenden Kipferln für das kleine Mädchen reserviert – griffen ihn die beiden anderen Männer an, getrieben vom Hunger, und versuchten, ihm die Kipferln zu entreißen. Der Mann holte ein Messer hervor und zögerte nicht, sich seiner zu bedienen. Er verletzte einen der beiden Angreifer. Angesichts seiner Entschlossenheit zogen sich die beiden zurück. Der Mann gab dem Mädchen ein Kipferl und einen Schluck Wasser. Am selben Abend starb einer der beiden Aggressoren, der zweite folgt ihm am Tag darauf, sodass nur mehr das Mädchen und ihr Beschützer im Boot blieben.

Letzterer sah einen Vogel über das Boot fliegen, sah dann, als er aufstand, in der Ferne etwas, das er nicht identifizieren konnte, er war zu sehr geschwächt. Wenig später flog der Vogel abermals über sie hinweg. Der Mann gab dem kleinen Mädchen das letzte Kipferl und das verbleibende Wasser. Dann kam er auf die Idee, vom Wasser aus das Boot in die Richtung auf das unbekannte Objekt zu stoßen, das er gesehen hatte. Er entdeckte, dass es sich um ein Fischerboot handelte, versuchte zu rufen, um die Fischer aufmerksam zu machen und um Hilfe zu rufen, aber der Klang seiner Stimme war erstickt von der Erschöpfung. Er gab die Hoffnung auf, kletterte zurück in die kwassa und fiel in Ohnmacht. Als er wieder zu sich kam, waren er und das Mädchen im Fischerboot. Die Fischer, die aus Madagaskar waren, brachten sie auf die Notaufnahme eines madagassischen Spitals. Als sie wieder auf den Beinen waren, wurden sie nach Anjouan gebracht.

Nach all diesem gemeinsam Erlebten und da er die Familie des kleinen Mädchens nicht kannte, kümmerte sich der Mann um sie. Heute ist dieses Mädchen eine Frau geworden und hat selbst Kinder.


Strand in Mutsamudu, der Hauptstadt Anjouans im Norden der Insel [10]

“Das ist ein Toter!“

Rakim, ein Jugendlicher des Club Soirhane, erzählt uns, dass er einmal gemeinsam mit seinem Freund Abdallah, der von Grande Comore war und ein paar Ferientage auf Anjouan verbrachte, vom Jogging zurückkam, als sie auf eine große Baustelle stießen, wo gearbeitet wurde. Da schrie sein Freund plötzlich in höchster Verblüffung: “Ola m’fu!“ (“Das ist ein Toter!“), wobei er den Zeigefinger auf einen der Arbeiter richtete. Dann wurde er ohnmächtig.

Voller Panik wandte sich Rakim an die Arbeiter und bat um Hilfe. Einige von ihnen kamen und bemühten sich, Abdallah wiederzubeleben. Als er wieder bei Bewusstsein war, erklärte er, noch immer in einem Zustand absoluter Verwirrung, dass unter den Arbeitern ein junger Mann war, der einmal sein Nachbar gewesen war, von dem man glaubte, dass er auf der Überfahrt nach Mayotte gestorben war. Der junge Mann hatte eine kleine Schwester nach Anjouan begleitet, um von dort eine kwassa nach Mayotte zu nehmen. Die Jahre vergingen ohne jegliche Nachricht und die Familie, die alle Hoffnung aufgegeben hatte, die beiden wiederzusehen, beschloss schließlich, die Totenfeier zu organisieren.

In der Folge erklärte der junge Mann, dass ihn bei seinem Aufbruch von Grande Comore tatsächlich seine kleine kranke Schwester begleitete. Seine Familie hatte alle ihre Ersparnisse für diese Reise aufgeboten. Mehrere Versuche einer Überfahrt scheiterten – bis zu dem Schiffbruch, der seiner Schwester das Leben kostete. Hin- und hergerissen zwischen widersprüchlichen Gefühlen, zwischen Scham und Schuldgefühl, seine kleine Schwester nicht gerettet zu haben, und der Angst, den Verlust seiner Familie zu berichten, beschloss er, in Anjouan zu bleiben. Fürs Überleben brachte er sich seit nahezu zehn Jahren mit Gelegenheitsarbeiten durch, er wollte sich ein neues Leben aufzubauen.

Die Türe gut zumachen

Es war ungefähr 17 Uhr, wie jeden Nachmittag machte ich einen kleinen Spaziergang. Ich kam durch eine menschenleere Straße ohne Häuser oder Geschäfte, wo die Leute selten zu Fuß gehen. Von weitem sah ich zwei Frauen auf mich zukommen, jede von ihnen schleppte einen Plastiksack mit ein paar Dingen drinnen mit sich herum. Als wir auf derselben Höhe waren, grüßte ich sie. Ich fragte sie, wo sie hingingen, alleine und um diese Uhrzeit auf der menschenleeren Straße. Sie erzählten mir, dass sie gerade erst am Flughafen von Ouani (Anjouan, Red.) gelandet waren.

Es handelte sich nämlich um von der Schwesterinsel Mayotte abgeschobene “Illegale“. Sie waren ursprünglich aus der Region Nyumakelé (im Süden Anjouans, Red.). Ich sagte ihnen, dass Nyumakelé in der entgegengesetzten Richtung liege zu der, die sie eingeschlagen hatten, in circa 40 km Entfernung. Sie erklärten mir, dass es um diese Tageszeit für sie keine Möglichkeit gäbe, nach Hause zu kommen, und dass sie deshalb auf dem Weg zu einer Freundin in Chiwe waren, einem Stadtviertel der Hauptstadt Mutsamudu, um dort die Nacht zu verbringen. Ich wollte sie ihren Weg fortsetzen lassen, da rief mir eine der beiden zu: “Haben sie ein Telefon dabei?“ “Ja“, antwortete ich ihr.

Als ich das Telefon hervorholte, fügte sie hinzu: “Haben Sie genug Guthaben, um in Mayotte anzurufen? Ich möchte meine Kinder verständigen, die sind dortgeblieben, alleine, ohne jemanden, der sich um sie kümmert.“

Lächelnd antwortete ich: “Ja, freilich!“

Sie sagte mir die Nummer an und ich wählte sie. Dann gab ich ihr das Telefon.

Am anderen Ende hörte ich das Echo einer kleinen Stimme. Es handelte sich um ihre älteste Tochter, gerade einmal zehn Jahre alt. Während der kurzen Dauer dieses Anrufs gab diese junge Mutter, besorgt und beunruhigt, in einem fort Ratschläge und Anweisungen. Ihre Tochter kam nicht zu Wort. Sie sagte ihr, sie solle darauf achten, die Tür gut zuzumachen, das Licht nicht brennen zu lassen, die Schule nicht zu schwänzen, auf ihren kleinen kranken Bruder aufzupassen, ihm seine Medikamente zu geben. Leider war dann das Guthaben aufgebraucht und der Anruf hörte abrupt auf, ohne dass sie sich Auf Wiedersehen sagen konnten.

Die beiden Frauen, überaus erkenntlich, dankten mir. Ich habe ihnen eine gute Reise und alles Gute gewünscht. Sie gingen weiter und ich beendete meinen Spaziergang.

Das Drama wiedererleben

Diese Zeugenaussagen zusammenzutragen, die Familien der Opfer dazu zu bringen, über den Meeresarm zwischen Anjouan und Mayotte mit anderen zu reden, war keine leichte Sache. Wir hatten Angst, die Häuser von Familien zu betreten, die bei einer Überfahrt Nahestehende ans Meer verloren hatten, fürchteten wir doch, eine Wunde wieder aufzureißen, die bereits verheilt war. Anfangs zögerten diese Familien, sich uns anzuvertrauen. Doch in der Folge begannen die Leute, mit uns in aller Offenheit zu reden.

Da gab es diejenigen, die flüchtig berichteten, ohne Details. Aber es gab auch andere, die, hatten sie einmal mit ihrer ZeugInnenaussage begonnen, nicht mehr aufhören wollten. Sie dankten uns, dass wir uns für sie und ihre Toten interessierten. Bei diesen Tragödien gibt es die, denen es gelingt, ihr Wort zu befreien, so schwierig ihnen das erscheinen mag, daneben gibt es andere, die beschließen, im Schweigen zu verharren.

Bei unserer Suche stießen wir auf eine Familie, die sich kategorisch weigerte, das Thema aufzugreifen. Sie ließ uns wissen, dass sie von dieser Tragödie nicht mehr hören wollte. Eine andere konterte mit der Frage, warum wir kamen, um von vergangenen und schon vergessenen Geschichten zu reden. Ihnen zufolge würde darüber zu sprechen ein Drama wiederbeleben, das schwer zu akzeptieren und zu bewältigen ist.

Von einer Mutter oder einem Vater sprechen, von einem Ehemann oder einer Ehefrau, einer Schwester oder einem Bruder, oder was immer der Platz gewesen sein mag, den diese Person in unserem Leben eingenommen hat, bleibt ein großer Schmerz, ein großes Leid. Und da zählt nicht, wie lange es her ist, dass die Person verschwunden ist. Ein Beweis dafür ist, dass die Familien 22 Jahre nach der Tragödie vom 7. Juli 2001 den Verlust ihrer Angehörigen noch immer erleben, als wäre es gestern gewesen.


Rest einer komorischen kwassa kwassa [11]

Die SchleuserInnen des Club Soirhane : Anssoufouddine Chaïma Rabezafy, Abdel Mottalib Aly Mohamed, Asma Abdallah Houmadi, El-Yasser Izoudine Said, Nadjila Ahamada Allaoui, Rakim Mohamed, Abdallah Issouf Mahamoud, Kasma Nourallah Combo, Ismaïli Akmal Said, Aymar Mouhinou Salim, Aïkar Mouhinou Salim, Djamili Ridjali Oumar, Mahfouz Ben Ali Saindoune, Nadjima Ahmed Malide, Istafida Mohamed Bacar, Aicham Ahamada, Caïssan Ben Ahmed Massoundi, Ben Roihim Fayssoal, Haïridine Moussa, Anssoufouddine Mohamed.

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Endnoten:

[1] Foto Sarahmcq 29.3.2017. Überarbeitet (in die Horizontale gedreht) GL, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Fish_Harvest.jpg.

[2] Petra Radeschnig gilt – wie stets – mein herzlicher Dank fürs Lektorieren!

[3] Foto Ikissai2.10.2014, leicht zugeschnitten GL, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kwassa_Kwassa.JPG.

[4] Im Jänner 1995 hat die französische Regierung unter Premierminister Edouard Balladur ein Visum zwischen Mayotte und den anderen Inseln des Archipels eingeführt.

[5] Die Komoren werden auch “Mondinseln“ genannt, weil sie in Form einer Mondsichel angeordnet sind.

[6] Paris Mutsa en quête de récit, kollektives Werk geschrieben vom Lycée d’excellence de Mutsamudu in Partnerschaft mit Club Soirhane, unter Aufsicht von Soeuf Elbadawi und Anssoufouddine Mohamed, Bilk & Soul, 2015.

[7] Von Französisch auf Englisch übersetzt von Bourrichon, 15.3.2011, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Anjouan_topographic_map-en.svg.

[8] Nachdem Anjouan 1997 versucht hat, sich abzuspalten, hatten Zentralstaat und Organisation Afrikanischer Einheit ein Embargo gegen die Insel erlassen.

[9] Foto alKomor.com 17.1.2006, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Mutsamudu_2006.jpg.

[10] Foto David Stanley 8.9.2013, leicht zugeschnitten GL, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Mutsamudu_Hotel_Al_Amal_Beach_(9983243486).jpg.

[11] Foto franek2 am 4.10.2007, leicht zugeschnitten GL, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Reste_de_kwassa_kwassa_comorien_-_panoramio.jpg.

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