Foto: Automechaniker in Nairobi [1]
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Günther Lanier, Ouagadougou 10. April 2024[2]
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Mit der Ökonomie – da meine ich die universitäre Ausbildung – lässt sich viel Geld verdienen. Allerdings zum Preis einer konsequenten Distanzierung von der Realität, meist aus ideologischen, will heißen Rechtfertigungsgründen, dient die “Wissenschaft“ doch in erster Linie dem möglichst reibungsfreien Funktionieren des Kapitalismus.
Um dem Profitstreben auf die Sprünge zu helfen, wurde ein riesiger Apparat entwickelt, der theoretische Modelle umfasst, die angeblich in vereinfachter Form die Wirklichkeit abbilden und es erlauben, verschiedene Eingriffe ins reale Wirtschaftstreiben durchzuspielen und dann Politikempfehlungen abzugeben[3].
DAS grundlegende Konzept all dieser Modelle ist der “homo oeconomicus“, das ist ein rationaler Mensch, der ausschließlich nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten denkt und handelt.
Kfz-Werkstatt in Ghana [4]
Wagen sich ÖkonomInnen hinaus in die Wirklichkeit und haben sie dabei den Mut, die Augen offen zu halten, so erleben sie manchmal ihre blauen Wunder. So geschehen z.B. bei einer seit 2019 in Nairobi, genauer gesagt in Dagoretti Corner[5], betriebenen Feldforschung von Tim Weiss, Dozent am Imperial College in London, Michael Lounsbury, Professor an der Alberta-Universität in Kanada, und Garry Bruton, emeritierter Professor an der Texas Christian University der USA. Es ging um das leidige Problem der Arbeitslosigkeit und was dagegen getan werden kann: Insbesondere in Ländern und Städten, wo die Bevölkerung schnell wächst, kommen staatliche Maßnahmen ja schlicht nicht nach, was das Schaffen von Arbeitsplätzen betrifft, auch wenn in Vorwahlzeiten ein solches immer wieder großmundig versprochen wird.
Vielleicht – so der ungewöhnliche, obschon mehr als vernünftige Ansatz der Studie – sollte zuerst die Wirklichkeit besser bekannt sein, bevor Interventionen beschlossen werden?
Dagoretti Corner ist ein Viertel im Westen Nairobis, das sich auf Kfz-Reparaturen spezialisiert hat. In einem im Süden von der Ngong Road und im Nordosten von der Naivasha Road gebildeten Dreieck[6] ist dort die Zahl der Kfz-Werkstätten über die letzten beiden Jahrzehnte von 11 auf 105 angewachsen. Das Wachstum kann in einem von Tim Weiss auf der Basis von Satelliten-Bildern produzierten Video nachvollzogen werden[7].
Diese nunmehr über hundert Betriebe sind weitgehend ident, weisen also keine Spezialisierung auf, die sie von den Nachbarbetrieben differenzieren würde. Das widerspricht ökonomischer Logik, denn der Kapitalismus fordert Wettbewerb. Wie könnte sich sonst das System, die Gesamtwirtschaft fort-, also höherentwickeln und immer größere Profite ermöglichen?
Nach herrschender Lehrmeinung kann das Dagoretti Corner-“Modell“ nicht gutgehen.
ein Automechaniker bei der Arbeit, Ghana [8]
Doch es hat sich an der Wirklichkeit erprobt. Nebeneinander die Zelte – aus Wellblech – aufzuschlagen, diese “Co-Lokalisierung“ ermöglicht nämlich das Einrichten eines informellen Wohlfahrtssytems. Den Standort teilende Werkstätten, so hat die Studie herausgefunden, unterstützen sich gegenseitig auf unterschiedliche Art und Weise, um das Überleben und, wenn möglich, Prosperieren zu sichern.
Bei Interviews mit 45 WerkstattbesitzerInnen wurden folgende fünf Praktiken ausgemacht[9]:
Geld wird gemeinsam gespart und investiert. Das kann z.B. im Rahmen kleiner, informeller und rotierender Spar- und Investier-Vereine geschehen, die in Kenia weitverbreitet und als “chamas“ oder “saccos“[10] bekannt sind. Die Betriebe kooperieren statt zu konkurrieren und entwickeln Vertrauen ineinander, um gemeinsam zu wachsen.
Zweitens bieten die Werkstätten Lehrlingen Ausbildungsmöglichkeiten, was ihnen später ermöglicht, ihre eigenen Betriebe aufzumachen. In diesem Rahmen wird der Nachwuchs auch mit dem Wohlfahrtssystem vertraut und kann es später perpetuieren.
Vertrauen ist fragil – um Trittbrettfahren (free riding) und Diebstahl zu verhindern, wird intern kontrolliert und überwacht[11]. Selbstorganisierte Komitees widmen sich kompetitivem Verhalten. Unter den KundInnen einer Nachbar-Werkstatt zu wildern, wird als Diebstahl angesehen und wird unterbunden. Ebenso werden im Wiederholungsfall schlechte Reparaturarbeit sowie Alkoholmissbrauch sanktioniert. Es geht darum, Dagoretti Corner als eine sichere Umgebung zu etablieren, wo KundInnen sorgenlos ihre wertvollen Autos einer Werkstatt anvertrauen können.
In Zeiten der Krise, wenn Bankrott droht, unterstützen sich Unternehmen gegenseitig, um das Überleben zu sichern. Chamas und saccos können Not-Geld zur Verfügung stellen, um die Zeit der Krise zu überbrücken. Werkstätten können vorübergehend ihre Beschäftigten an andere verleihen, um Gehaltskosten zu reduzieren. Und Unternehmen lagern Reparaturen an andere aus, die gerade in Schwierigkeiten sind, um diesen ein Mindestmaß an Einnahmen zu sichern, bis das Geschäft wieder läuft.
Schließlich können fünftens in Zeiten persönlicher Krisen (z.B. bei Unfall, Krankheit oder Begräbniskosten für Angehörige) die anderen einschreiten so wie eine Versicherung das täte: BesitzerInnen, Beschäftigte und Lehrlinge tragen dann kollektiv zum Lindern der Not der Betroffenen bei und verhindern, dass sie in Armut und Elend abgleiten. Dieses informelle Versicherungssystem bezieht auch Familienmitglieder ein.
Unter solchen Umständen ist klar, dass die üblichen beschäftigungsschaffenden Maßnahmen, die auf eine verbesserte persönliche Wettbewerbsfähigkeit “am Markt“ abzielen (z.B. durch neues Wissen durch Ausbildung oder durch eine finanzielle Hilfe zum Anschaffen besserer Arbeitsmittel), kontraproduktiv sind. Nötig ist vielmehr die Unterstützung des selbstgeschaffenen Wohlfahrtssystems und eine Stärkung der so produktiven Zusammenarbeit.
Kfz-Werkstatt, abermals in Ghana [12]
Wechseln wir abschließend kurz von Ost- nach Westafrika. Dort hat Enda Graf Sahel – an deren Gründung in den 1970er Jahren Samir Amin wesentlichen Anteil hatte[13] – mehr als zwanzig Jahre vor Tim Weiss & Co eine sehr ähnliche Erfahrung gemacht:
“Arm ist, wer niemanden hat. Enda Graf Sahel berichtet vom eigenen Lernprozess. Als sie sich einst in Grand Yoff[14] um die Fischhändlerinnen bemühten, stellten sie fest, dass diese sich tagein tagaus Geld ausborgten, um damit ihre Handelsware, die Fische, zu kaufen. Dafür zahlten sie hohe Zinsen. Enda stellte daraufhin den Frauen Finanzmittel zu einem sehr viel niedrigeren Zinssatz zur Verfügung. Ziel war, ihre finanzielle Lage zu verbessern, indem sie der Wucherer nicht mehr bedurften. Doch die Frauen hörten nicht auf, sich Geld bei den Wucherern auszuborgen.
Denn für die Fischhändlerinnen waren die Wucherer nicht bloß Geschäfts-, sondern auch soziale Partner. Durch die materielle Transaktion werden sie zu Verbündeten, werden Teil des sozialen Netzes der Frauen, sind in einem eventuellen Notfall zum Beispiel zur Unterstützung verpflichtet. Das konnte Enda mit seinen billigeren Krediten nicht leisten.
Reine Marktbeziehungen, also Transaktionen, die sich aufs Materielle beschränken, bringen das Risiko mit sich, “soziale Waisen“ aus uns zu machen, Individuen ohne oder mit einem unzureichenden sozialen Netz.“[15]
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Wie toll auch immer wir ausgebildet sein mögen, als ÖkonomInnen oder was auch immer: Geben wir der Wirklichkeit ihre Chance, bevor wir uns erdreisten, Empfehlungen zu machen oder Entscheidungen zu treffen.
Automechaniker auf der Motorhaube eines verunfallten Autos, Mombasa, Kenya [16]
Endnoten:
[1] Foto Eugene Odanga masinde 27.10.2017, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Mechanic_working_in_Nairobi.jpg.
[2] Petra Radeschnig gilt – wie stets – mein herzlicher Dank fürs Lektorieren!
[3] Freilich vereinfache auch ich, glaube mich aber nicht zu täuschen. Ich wurde an der Uni Wien zum Ökonomen ausgebildet – und hoffe, dass das in meinen Artikeln nur selten durchscheint.
[4] Foto Amuzujoe 16.12.2023, zugeschnitten GL, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Mechanic_shop_06.jpg.
[5] Der daraus resultierende Artikel heißt “Survivalist Organizing in Urban Poverty Contexts“, also “Lebenskunst-Organisation im Kontext urbaner Armut“. Er ist online erschienen am 27.2.2024 auf InformsPubsOnLine, https://pubsonline.informs.org/doi/10.1287/orsc.2023.17644. Dort ist nur eine kurze Zusammenfassung gratis zugänglich. Tim Weiss hat auf The Conversation eine überaus lesbare Kurzversion der Studie publiziert: Why do identical informal businesses set up side by side? It’s a survival tactic – Kenya study, The Conversation 24.3.2024, https://theconversation.com/why-do-identical-informal-businesses-set-up-side-by-side-its-a-survival-tactic-kenya-study-225582.
Im The Conversation-Artikel wird die Feldforschung leider nicht genauer beschrieben. Dass sie 2019 begann, habe ich der Webseite von Tim Weiss entnommen – siehe https://www.tim-weiss.com/research.
[6] Siehe https://www.google.com/maps/place/Dagoretti+Corner/@-1.3006431,36.7578232,16.75z/data=!4m6!3m5!1s0x182f1a416d55fb21:0x6f7de4c9b545dcb5!8m2!3d-1.2988804!4d36.7566351!16s%2Fg%2F11d_z8_v5x?entry=ttu.
[7] Siehe https://www.youtube.com/watch?v=qnUdWWWPv6E.
[8] Foto Amuzujoe 16.12.2023, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Mechanic_shop_02.jpg.
[9] Ohne eins zu eins zu übersetzen, bleibe ich bei den fünf Punkten eng am Text des zitierten The Conversation-Artikels von Tim Weiss.
[10] Das Akronym steht für “Savings and Credit Cooperative Organisations”, also Spar- und Kredit-Genossenschaftsorganisationen.
[11] Im Englischen schöner: “to self-police“: Im Inneren wird selbst Polizei gespielt.
[12] Foto Amuzujoe 16.12.2023, zugeschnitten GL, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Mechanic_shop_03.jpg.
[13] Siehe Kap.24 “Samir Amin und der Herbst des Neoliberalismus“ in: Günther Lanier, Afrika. Exkursionen an den Rändern des Weltsystems, Linz (guernica Verlag) 2019 (nur beim Verlag erhältlich unter [email protected]), pp.190f. Auch zugänglich unter https://www.africalibre.net/artikel/313-samir-amin-und-der-herbst-des-neoliberalismus-oder-politische-macht-kommt-zuallererst-aus-wortern.
[14] Ein Stadtteil von Dakar, nördlich des früheren (Ergänzung GL 2024) Flughafens. Zu den Fischhändlerinnen siehe Enda Graf Sahel, Une Afrique s’invente, Paris-Dakar Grand Yoff (Karthala/Enda Graf Sahel) 2001, pp.203-205.
[15] Aus Kap.22 “ Die Welt der Herrschaft des Mangels unterwerfen. Armut als Projekt von Kolonialismus und globalisiertem Kapitalismus“ in: Günther Lanier, Afrika. Exkursionen an den Rändern des Weltsystems, Linz (guernica Verlag) 2019 (nur beim Verlag erhältlich unter [email protected]), pp.177f. Auch zugänglich unter https://www.africalibre.net/artikel/311-die-welt-der-herrschaft-des-mangels-unterwerfen-oder-armut-als-projekt-von-kolonialismus-und-globali.
[16] Foto RobertNiemann 30.10.2015, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Powernapping.jpg.