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Formelles versus Gemeinschaftsrecht

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Foto: Unter dieser Linde wurde einst Gericht gehalten [1]

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Günther Lanier, Ouagadougou 14. Juni 2023[2]

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Standen Sie schon einmal vor Gericht?

Nein? Glück gehabt! Die Justiz spricht ja nicht unbedingt Recht, ihre Mühlen mahlen meist langsam und Normalsterbliche verstehen juristisches Deutsch kaum, brauchen eine Rechtsvertretung, die ist teuer.

Das ist aber eine rezente Entwicklung. Rechtssprechen war nicht immer der alltäglichen Wirklichkeit enthoben. Das gilt für Afrika ebenso wie für Europa. Das Foto oben zeigt eine angeblich tausendjährige Gerichtslinde im Herzen eines kleinen Dorfes in der Nähe von Leipzig. Bis in die frühe Neuzeit musste in deutschen Landen unter freiem Himmel Gericht gehalten werden – wohl der Transparenz und allgemeinen Zugänglichkeit wegen –, da waren Linden besonders beliebt. Unter anderem wurden ihnen magische Eigenschaften zugeschrieben, aber sie sind auch gute Schattenspenderinnen, wachsen schnell und werden sehr alt. Doch auch Ulmen, Eichen, Fichten und Eschen dienten als Gerichtsbäume.


Gacaca-Prozess. “Gacaca” wird “Gatschatscha” ausgesprochen [3]

Nach dem Genozid in Ruanda 1994 gab es für die Gerichte unheimlich viel zu tun. Da der formelle Justizapparat das nie geschafft hätte, wurde die große Mehrheit der Fälle vor Dorfgerichten verhandelt, den Gacaca-Gerichten. Dabei handelt es sich um eine traditionelle Institution, wo unter Leitung der Ältesten in Dorfangelegenheiten unter freiem Himmel Recht gesprochen wurde. Mit einem Gesetz vom 26. Jänner 2001 wurden im Juni 2002 von der Regierung den Anforderungen des Genozids angepasste Gacaca-Dorfgerichte eingerichtet, landesweit circa 11.000. Von den Mitgliedern der Dorfgemeinschaften gewählte integre LaienrichterInnen steuerten das partizipative Rechtssprechen und verkündeten am Schluss die Urteile. Nur die Prozesse der Hauptverantwortlichen des Genozids mussten vor modernen Gerichten verhandelt werden[4]. Für die allerärgsten Fälle – Völkermord, Verbrechen gegen die Menschheit und Kriegsverbrechen – wurde auf Basis der Resolution 955 des UN-Sicherheitsrates vom 8. November 1994 in Arusha im benachbarten Tansania der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda eingerichtet.


Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda in Arusha – ICTR englisches, TPIR französisches Akronym für den Gerichtshof [5]

In den zwei Jahrzehnten seiner Tätigkeit hat dieser Strafgerichtshof 93 Personen angeklagt und 61 verurteilt. Das hat fast 1 Mrd. USD gekostet. Im Vergleich dazu[6] haben die Gacaca-Gerichte die Fälle von circa 1 Million Menschen verhandelt. Die Kosten waren unvergleichbar niedriger: um die 50 Mio. USD[7] sollen es gewesen sein, also ein Zwanzigstel der vom Internationalen Gerichtshof verursachten Kosten.

Dieser Vergleich spricht für sich und untermauert die Skepsis, mit der in Ruanda der UN-Gerichtsbarkeit begegnet wird. Dazu kommt jetzt noch, dass Félicien Kabuga, vermutlich der bedeutendste Financier des Genozids, in Den Haag am 6. Juni für verhandlungsunfähig erklärt wurde[8]. Nachdem er sich ein Vierteljahrhundert erfolgreich in Kenia, im Kongo, in der Schweiz und zuletzt in Frankreich versteckt hatte, wurde Kabuga am 16. Mai 2020 in Asnières-sur-Seine (nordwestlich des Zentrums von Paris) verhaftet und im Oktober nach Den Haag überstellt, wo seit dem Ende des Arusha-Gerichtshofes der “Internationale Restmechanismus für Strafgerichtshöfe“ für das Verhandeln der verbleibenden Fälle zuständig ist. Kigali hatte umsonst die Auslieferung Kabugas verlangt.

Dass Félicien Kabuga also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit[9] nie verurteilt werden wird, mindert das Ansehen und die Glaubwürdigkeit der internationalen Gerichtsbarkeit innerhalb von Ruanda weiter. Dass er nicht freikommt – er bleibt in Den Haag unter medizinischer Beobachtung – und dass eine prozessähnliche Prozedur stattfinden soll mit ZeugInneneinvernahme und vielem anderen mehr, ändert daran nichts, denn nicht nur wird dort in Kabugas Abwesenheit verhandelt werden, es darf zudem kein Schuldspruch gefällt werden – das höchste der Gefühle, das sein darf, ist, dass er vom Gericht als “an den vorgeworfenen Tatsachen nicht unschuldig“ bezeichnet wird[10].

Ein ganz wesentlicher Unterschied zwischen den lokalen gemeinschaftlichen und den formellen internationalen Gerichtshöfen ist, dass in Gacaca-Prozessen die Möglichkeit nicht nur zum Eingestehen von Schuld, sondern auch zur Versöhnung bestand.

Wie Südafrika beim Aufarbeiten der Apartheid mit seiner Wahrheits- und Versöhnungskommission[11] und im Gegensatz zu den Nürnberger Prozessen zum (sehr teilweisen) Aufarbeiten der Nazi-Zeit hat Ruanda für den Umgang mit dem 1994er Genozid statt vergeltender Justiz dem Modell der wiedergutmachenden Justiz (restorative justice) den Vorzug gegeben: Vergebung vor Verfolgung, Entschädigung vor Vergeltung.


Gacaca-Prozess[12]

Abschließend gilt es, den Blick zu weiten. Der Gerichtshof in Arusha und die Gacaca-Gerichte betreffen zuallererst Ruanda. Globale Reichweite hat hingegen der Internationale Strafgerichtshof (International Criminal Court/ICC). Aufgrund des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs von 1998 vier Jahre später in Den Haag eingerichtet, ist er für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschheit und Kriegsverbrechen zuständig. Wir sollten uns freuen, dass hier ein Instrument geschaffen wurde, das auch die Anklage von VerbrecherInnen ermöglicht, die in ihrem Land auf dem Thron sitzen, so z.B. des sudanesischen Langzeitdiktators al-Baschir.

Doch ist der Internationale Strafgerichtshof afrikaweit in Verruf geraten, erweckt die Auswahl der Angeklagten über die zwei Jahrzehnte seines Bestehens doch den Eindruck, dass es sich um ein anti-afrikanisches Gericht handelt. So blieben bisher z.B. StaatschefInnen aus der EU und den USA völlig unbehelligt. Das ermöglicht es auch den brutalsten und undemokratischsten unter den afrikanischen Herrschern[13], auf einen Pseudo-Panafrikanismus gestützt den Internationalen Strafgerichtshof zu verdammen und den Austritt ihres Landes aus dem Römischen Statut zu fordern oder gar zu realisieren.

* * *

Endnoten:

[1] Collmer Linde im Herzen des 250 EinwohnerInnen-Dorfes Collm östlich von Leipzig. Foto Cookroach 17.5.2021, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:2021_Collmer_Linde_04.jpg

[2] Petra Radeschnig gilt – wie stets – mein herzlicher Dank fürs Lektorieren!

[3] Foto Scott Chacon 29.7.2006, überarbeitet GL, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Gacaca_trial.jpg.

[4] Siehe z.B. Valérie Rosoux, Aggée Shyaka Mugabe, Le cas des gacaca au Rwanda. Jusqu’où négocier la réconciliation ? in: Négociations 2008/1, Nr.9, pp.29-40, https://www.cairn.info/revue-negociations-2008-1-page-29.htm.

[5] Foto Tomsudani 2003, leicht überarbeitet GL, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ictr_office_3.jpg.

[6] Darauf, diesen Vergleich anzustellen, hat mich Jonathan Beloff gebracht mit seinem Artikel Rwanda genocide accused Félicien Kabuga is ruled unfit to stand trial: this will further erode trust in international justice, The Conversation 12.6.2023, https://theconversation.com/rwanda-genocide-accused-felicien-kabuga-is-ruled-unfit-to-stand-trial-this-will-further-erode-trust-in-international-justice-207423.

[7] Phil Clark von der Uni Oxford hat die Kosten auf zwischen 46 und 65 Mio. USD geschätzt. Siehe Phil Clark, The Gacaca courts, post-genocide justice and reconciliation in Rwanda: Justice without lawyers, Cambridge (Cambridge University Press) 2010.

[8] Siehe United Nations, International Residual Mechanism for Criminal Tribunals, Further Decision on Félicien Kabuga’s Fitness to Stand Trial, 6.6.2023, https://ucr.irmct.org/LegalRef/CMSDocStore/Public/English/Decision/NotIndexable/MICT-13-38/MRA26739R0000661641.pdf.

[9] Im richterlichen Entscheid ebd. p.28 wurde es als sehr unwahrscheinlich bezeichnet, dass der offenbar an Demenz leidende Angeklagte in Zukunft verhandlungsfähig werden würde (“Mr. Félicien Kabuga is unfit to participate meaningfully in his trial and is very unlikely to regain fitness in the future“).

[10] Siehe z.B. RFI, Génocide au Rwanda: Félicien Kabuga déclaré «inapte» à être jugé, RFI 7.6.2023 um 13h09, https://www.rfi.fr/fr/afrique/20230607-g%C3%A9nocide-au-rwanda-f%C3%A9licien-kabuga-d%C3%A9clar%C3%A9-inapte-%C3%A0-%C3%AAtre-jug%C3%A9.

[11] Truth and Reconciliation Commission (TRC); zu dieser siehe insbesondere Antjie Krog, The Country of my Skull. Guilt, sorrow, and the limits of forgiveness in the New South Africa, N.Y. (Random House) 2000.

[12] Foto Scott Chacon 29.7.2006, überarbeitet GL, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Gacaca_trial_2.jpg.

[13] Meines Wissens haben das bisher nur männliche Staatschefs getan, keine der viel zu wenigen Herrscherinnen.

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