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Etwas vor der Zeit: Kenia zum 60er

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Foto: Kenias Gründerpräsident Jomo Kenyatta [1]

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Günther Lanier, Ouagadougou 12. Juli 2023[2], vor allem als Übersetzer für
Gabrielle Lynch[3], Professorin in Vergleichender Politikwissenschaft, University of Warwick

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Lieber als vom großen Patriarchen hätte ich dem Artikel ein Foto von Ngina Kenyatta vorangestellt, die wurde am 24. Juni neunzig. Doch ich habe kein gemeinfreies Bild von ihr gefunden. Sie war nicht Jomo Kenyattas einzige Frau, sondern seine vierte, aber sie war zweifelsfrei des unabhängigen Landes erste First Lady[4].

Jahre später war dann ihr zweites Kind, Uhuru Muigai Kenyatta, Kenias vierter Präsident, von 2013 bis 2022.

Ngina Kenyatta hat von sich behauptet, eine “Mau Mau“[5]-Kämpferin gewesen zu sein. Das ist unwahrscheinlich, das Mau Mau-Verbot wurde erst 2003 aufgehoben, also lange nach dem Tod ihres Mannes, doch dass sich die noble Lady in eine Reihe stellen will mit den KämpferInnen des Waldes, macht sie sympathisch.

Am 12. Dezember wird Kenia den 60. Jahrestag seiner Unabhängigkeit feiern. Ngina Kenyatta hätte sicher viel Interessantes zu erzählen, würde sie beschließen auszupacken. Da das wenig wahrscheinlich ist, würde dann doch das Wirtschaftsimperium rund um die Kenyattas zu bröckeln drohen, biete ich Ihnen heute feinere und intellektuellere Kost: einen historischen Rückblick der etwas anderen Art, geschrieben von einer Politologin und Kenia-Fachfrau sowie Professorin der renommierten Warwick-Universität in den englischen Midlands.

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Kenia mit 60: Sechs entscheidende Momente, die postkoloniale Politik gestalteten

Im englischen Original publiziert in: The Conversation 9. Juli 2023
https://theconversation.com/kenya-at-60-six-key-moments-that-shaped-post-colonial-politics-208242

Gabrielle Lynch
Professorin in Vergleichender Politikwissenschaft, Warwick-Universität

Kenia feiert heuer 60 Jahre Unabhängigkeit. Als Politologin habe ich die letzten zwanzig Jahre zu Kenia geforscht. Aus dieser Warte präsentiere ich für jedes Jahrzehnt einen Wendepunkt, der dazu beitrug, die postkoloniale Politik des ostafrikanischen Landes zu formen. Ich habe keine Wahlen, Mordanschläge oder andere Ereignisse ausgewählt, über die während dieser Jahre viel berichtet worden ist. Stattdessen wende ich mich oft vergessenen Momenten zu, die ein Licht werfen auf entscheidende Schritte des Landes vorwärts – oder rückwärts – sowie auf die Rolle von Handlungsmacht (agency) und Institutionen.

Die Lanet-Meuterei

In den 1960ern und 1970ern wurde manch Regierung in Afrika Opfer eines Coups und Gegencoups. Die betroffenen Länder waren dann willkürlicher und autoritärer Militärherrschaft unterworfen[6].

Kenia ist es gelungen, dieses Schicksal zu vermeiden. 1964 hat ein in Lanet stationiertes Regiment erfolglos eine Meuterei inszeniert. Als Reaktion darauf hat des Landes erster Präsident Jomo Kenyatta dafür optiert, das Militär klein zu halten, wie es der kenianische Politologe Musambayi Katumanga im Detail dargestellt hat. Er hat sich stattdessen auf verschiedene Polizeieinheiten gestützt.

Kenyatta hat außerdem “allmählich die ethnische Zusammensetzung der Streitkräfte geändert“, deren Offiziere zunächst überproportional Kalenjin, Kamba, Samburu und Somalis waren. Er erhöhte den Anteil der Kikuyu, denen er selbst angehörte, Kenias größte und wirtschaftlich dominante ethnische Gruppe.

Diese Maßnahmen trugen dazu bei, die Loyalität des Militärs gegenüber dem Regime zu gewährleisten, hatten aber einen Preis: Die Vervielfachung für Sicherheit zuständiger Einheiten untergrub Kontrolle und Verantwortlichkeit.

Die Strategie ethnischen Rekrutierens und Beförderns verstärkte die Wahrnehmung eines in ethnischen Belangen parteiischen Staates. Dieselbe Strategie wurde nach einem Putschversuch 1982 von Kenyattas Nachfolger Daniel arap Moi angewandt und später, nach der 2007/08 auf die Wahlen folgenden Krise, auch von Kenias drittem Präsidenten, Mwai Kibaki.

1976: Die Ändert-die-Verfassung-Bewegung

Die Gesundheit Kenyattas ließ Mitte der 1970er Jahre immer mehr zu wünschen übrig. Um die automatische Nachfolge seines Vize-Präsidenten Moi zu verhindern, versuchte eine Gruppe von Kikuyu-PolitikerInnen, die Verfassung zu ändern. Vergeblich. Nach Kenyattas Tod ging die Macht friedlich an Moi über.

Doch der Versuch hatte drei wichtige Auswirkungen:

                Das Militär war einmal mehr aus der Politik des Landes ausgeklammert worden.
                Dem neuen Präsidenten war die Unsicherheit seiner Position überaus bewusst geworden.
                Der Eindruck, dass eine Kikuyu-Elite Anspruch auf die Ausübung der Macht erhob, verstärkte sich.

1980: Beginn des harten Durchgreifens

In seinem ersten Jahr folgte Moi im Wesentlichen Kenyattas Fußstapfen – auf Kiswahili “nyayo“[7]. Er ließ keine wirkliche Opposition zu, es gab jedoch Raum für breitere politische Diskussionen.

1980 aber begann sich Mois Hang zum Autoritarismus abzuzeichnen. Er verbot die StudentInnen-Organisation der Nairobi-Universität und löste die Gewerkschaften des akademischen Universitätspersonals und der kenianischen Staatsbediensteten auf. Außerdem wies er ethnisch-basierte Vereine an, im Interesse der nationalen Einheit ihre Tätigkeiten einzustellen.

Autoritarismus charakterisierte die 1980er Jahre, die Menschen hatten keine Wahl als in Mois Fußstapfen zu treten.

1990: Timothy Njoyas Neujahrsansprache

Im November 1991 suspendierte der Pariser Club, ein informelles Forum von Gläubigerländern, 350 Mio USD Hilfe bis Kenia politische Reformen einleiten würde. Im Monat darauf beschloss das Parlament im Schnellverfahren eine Verfassungsänderung, die einer Rückkehr zu Vielparteien-Wahlen den Weg ebnete.

Diese Abfolge von Ereignissen könnte fälschlicherweise den Eindruck erwecken, dass es der Druck der Gläubiger war, der die Reform der Verfassung bewirkte. In Wirklichkeit gab es bereits aus dem Inneren Kenias beträchtlichen Druck auf Einführung eines Vielparteiensystems.

Eine Wende fand statt, als zu Jahresanfang 1990 der Theologe Timothy Njoya in seiner Neujahrsansprache darüber reflektierte, wie lange Kenia noch ein Einparteienstaat bleiben würde. Oppositionelle – insbesondere religiöse und zivilgesellschaftliche FührerInnen und marginalisierte PolitikerInnen – stellten immer unüberhörbarer Forderungen nach Vielparteienpolitik.

Es waren diese Forderungen aus dem Inland – unterstützt durch die Drohung der suspendierten Hilfe –, die Moi in Zugzwang brachten und die Rückkehr zur Vielparteienpolitik der frühen 1990er Jahre bewirkten. Wobei Moi versuchte, den Übergang zu steuern.

2005: Das Verfassungsreferendum

2002 stießen Kibaki und die Nationale Regenbogenkoalition die Unabhängigkeitspartei Kanu mittels Erdrutschsieg vom Thron. Das bewirkte in Kenia einen Moment großen Optimismus.

Mit dem Auftauchen von Berichten über Korruptionsskandale und ethnische Voreingenommenheit dauerte es allerdings nicht lange, bis Spaltungen diese Koalition plagten. Die Versprechen von Verfassungsänderungen wurden verwässert. Wie frustriert die Menschen waren, zeigte sich, als sie den Verfassungsentwurf im 2005er Referendum ablehnten.

Das Referendum und die darauffolgenden allgemeinen Wahlen bedeuteten, dass Kenia über zwei Jahre eine Periode intensiver Wahlkämpfe durchmachte. Die in die Länge gezogenen Wahlkämpfe lenkte die Aufmerksamkeit auf die enttäuschten Hoffnungen. Zudem präsentierten sie die Regierung als von den und für die Kikuyus.

Außerdem stärkte das Referendum das Vertrauen in die Wahlkommission. Deswegen kümmerten sich die Menschen relativ wenig um Kibakis einseitige Ernennungen im Justizapparat.

Schließlich förderte das Referendum das Gefühl, dass die Opposition die 2007er Wahlen gewinnen würde, so sie nicht gefälscht würden. Diese Faktoren führten zusammen mit problematischen Wahlen und einer Geschichte ungestrafter Gewalt in Verbindung mit Wahlen zu Kenias ärgster postkolonialer Krise. Nach den 2007er Wahlen wurden im Zuge von Gewalttätigkeiten mehr als 1.000 Menschen umgebracht und fast 700.000 vertrieben.

2011: Ein neuer Oberster Richter

Die Krise von 2007/08 war Wegebereiterin einer neuen Verfassung im Jahr 2010. Unter anderem wurde Macht an die 47 Distrikt[8]-Regierungen übertragen. Zudem wurde ein neuer Grundrechtskatalog erstellt und ein Oberster Gerichtshof eingerichtet. Letzterer ist allein zuständig für das Verhandeln und Entscheiden von Eingaben zu Präsidentschaftswahlen und von Berufungen gegen Entscheide des Appellationsgerichtes. Er entscheidet auch in Fällen, die eine Interpretation oder Anwendung der Verfassung erfordern.

Da es sich um die Spitze des kenianischen Justizsystems handelt, ist die Führung des Obersten Gerichtshofs von entscheidender Bedeutung. Als mit Willy Mutunga ein überaus angesehener Menschenrechtsverfechter zum ersten Obersten Richter des Landes ernannt wurde, bedeutete das einen Wendepunkt. Manche kritisieren Mutunga zwar dafür, dass er Uhuru Kenyattas und William Rutos Wahl 2013 validiert hat, er war aber auch bei Entscheidungen federführend, die Dezentralisierung und Grundrechtskatalog absicherten. Und er beaufsichtigte Reformen und juridisches Lernen, die für eine unabhängigere Gerichtsbarkeit sorgten. Reformen, die – unter der tapferen Führung seines Nachfolgers – die Annullierung der Wahlen von August 2017 ermöglichten.

Fazit aus diesen Momenten: Individuen können einen Unterschied machen, zum Guten oder zum Schlechten, insbesondere dann, wenn sie am Umgestalten von Institutionen mitarbeiten, die sie überleben werden.

* * *

Es bleibt mir nur mehr, Gabrielle Lynch herzlich dafür zu danken, dass sie mir ihren Text zum Übersetzen anvertraut hat. Weiter viel Erfolg, Gabrielle Lynch, in Kenia, Großbritannien und anderswo!


Jomo Kenyatta als Statue in Nairobi vor Kenias High Court [9]

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Endnoten:

[1] Dem The Conversation-Artikel von Gabrielle Lynch, den ich heute übersetze, war ein Bild von Jomo Kenyatta vorangestellt, für das ich nicht die Rechte habe. Hier ein anderes Foto von ihm, aufgenommen am 22.8.1978, FotografIn unbekannt, leicht zugeschnitten GL, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Jomo_Kenyatta_1978.jpg.

[2] Petra Radeschnig gilt – wie stets – mein herzlicher Dank fürs Lektorieren!

[3] Zu Gabrielle Lynch siehe https://warwick.ac.uk/fac/soc/pais/people/lynch/.

[4] Zu Ngina Kenyatta siehe Anaïs Angelo, Catheline Bosibori N, Mama Ngina Kenyatta at 90: the quiet power behind Kenya’s famous political family, The Conversation 15.6.2023, https://theconversation.com/mama-ngina-kenyatta-at-90-the-quiet-power-behind-kenyas-famous-political-family-206350.

[5] Der eigentliche Name ist Kenya Land and Freedom Army. Dazu siehe Günther Lanier, Land und Freiheit oder Die ungeschriebene Geschichte von morgen, Ouagadougou (Africa Libre) 22.3.2023, https://www.africalibre.net/artikel/497-land-und-freiheit-oder-die-ungeschriebene-geschichte-von-morgen sowie Günther Lanier, Weißsein in Kenia, Mitte 20. Jahrhundert, Ouagadougou (Africa Libre) 8.3.2023, https://www.africalibre.net/artikel/492-weisssein-in-kenia-mitte-zwanzigstes-jahrhundert.

[6] Ich habe Gabrielle Lynchs Fußnoten weggelassen. Sie sind im englischen Original nachlesbar.

[7] “Nyayo“ wurde Mois Spitzname. GL.

[8] “County“.

[9] Foto K.Gituma 16.9.2012, leicht zugeschnitten GL, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:JOMO_KENYATTA.JPG.

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