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Die Opferseite der Macht

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Foto: ungefähr auf demselben Breitengrad wie Dakar, auf der anderen Seite des Atlantiks: Curaçao, 1795er SklavInnen-Revolte-Denkmal [1]

* * *

Günther Lanier, Ouagadougou 14. Februar 2024[2]

* * *

Protest und Widerspruch sind unerwünscht. Drei Menschen sind gestorben, weil sich das senegalesische Regime bedroht fühlte oder nicht in Frage stellen lassen wollte, jedenfalls mit großer Brutalität auf die Unmutsbezeugungen eines nicht unwesentlichen Teils seiner Bevölkerung reagierte, nachdem sich Macky Sall, wie letzte Woche auch hier berichtet, über alle Regeln und Gesetze und die Verfassung hinweggesetzt, die Wahlen verschoben und so sein Mandat verlängert hat.

Unter den Toten ist einer, der in Saint-Louis studierte. Daraufhin streikten alle acht senegalesischen Universitäten. In einem zweiminütigen Video traten nacheinander Jus-ProfessorInnen auf und verlangten vom Präsidenten, er solle gefälligst die Verfassung respektieren[3].

Doch kümmern wir uns nicht um juristische Texte. Der eigentliche Skandal ist, wie im Senegal (und nicht nur dort) mit dem Leben von BürgerInnen umgegangen wird. Leichtfertig, ja leichten Herzens, würde ich meinen angesichts der langen Serie von Sicherheitskräfte-Morden an denen, zu deren Schutz ebendiese Sicherheitskräfte eigentlich da sind. Steht dieser Auftrag von Polizei, Gendarmerie und Heer nicht in jeder Verfassung?

Zu den drei rezenten Morden ist zumindest mir recht wenig bekannt, keine Details, keine Hintergründe[4]. Alpha Yoro Tounkara, 22 Jahre jung, studierte im zweiten Jahr Geographie an der Gaston Berger-Uni in St. Louis. Der um ein Jahr ältere Modou Gueye war fliegender Händler, verkaufte T-Shirts und Flaggen in Colobane, einem Viertel in Dakar nordwestlich des Stadtzentrums. Laut seinem Bruder und seinem Schwager hat er trotz zwei Notoperationen die Kugel in den Bauch nicht überlebt, die ihm ein Gendarm verpasste – er befand sich auf dem Weg nach Hause. Im Süden des Landes, in Ziguinchor, der Hauptstadt der Casamance, ist ein 19-Jähriger in der Notaufnahme eines Spitals gestorben. Ihn hatte die Kugel der Sicherheitskräfte am Kopf erwischt[5].

Deutlich mehr wissen wir über die 29 Toten der Proteste gegen das Macky Sall-Regime vom Juni 2023. Das ist vor allem der Initiative CartograFreeSenegal zu danken, auf deren Recherchen ich mich in der Folge stütze[6].

Es gilt, die Verachtung der Mächtigen für “ihr Volk“ nicht einfach als gegeben hinzunehmen, ihre Geringschätzung der von ihnen Beherrschten, es gilt, deren Schicksal und Leid aufzuzeigen und durch den Fokus auf die Opfer so konkret zu machen, wie nur geht.

In liebevoller kollektiver Kleinarbeit hat CartograFreeSenegal – um die 40 JournalistInnen, KartographInnen und DatenwissenschaftlerInnen – die Umstände und Schicksale der neunundzwanzig im Juni 2023 vom senegalesischen Regime Ermordeten aufgearbeitet und auf der Webseite https://lamaisondesreporters.sn/cartografreesenegal/ gemeinfrei dokumentiert.


Lokalisierung der Morde [7]

Baye Fallou Sène, 17 Jahre alt, war neugierig. Er wollte sehen, was da vor sich ging. An den Protesten beteiligt war er nicht. Eine Kugel hat er trotzdem abbekommen. Er starb auf dem Karren, der ihn ins Spital brachte. Er war Schüler im Lycée Le Scientifique (“Der Wissenschaftler“), war laut seiner Mutter “ruhig, anständig, höflich“. Er träumte wie so viele davon, Profifußballer zu werden. Er ruht auf dem Darou Salam-Friedhof in der Mouriden-Stadt Touba.


Baye Fallou Sène [8]

Babacar Samba war Schweißerlehrling. Auch er starb an einer Kugel der Sicherheitskräfte. Nicht nur sein Vater erzählt, dass der 20-Jährige ein überaus disziplinierter Arbeiter war, der oft am Sonntag eine Extra-Schicht einlegte, um der Familie “ihr Frühstück zu sichern“. Respektvoll und lebenstüchtig, war er die große Hoffnung seiner Eltern.

Khadim Ba war ein 21 Jahre alter Mechaniker. Mit seinen Freunden nahm er in Pikine Nietti Mbar – einem Vorort von Dakar im Nordosten – an den Protesten teil. Wie 26 der 29 Ermordeten ist er an einer Kugel gestorben. Der auf ihn schoss, flüchtete aus Angst vor dem Gelynchtwerden aufs Polizeikommissariat. Khadim Ba wird als “würdiger junger Mann“ beschrieben, er habe insbesondere einen “unvergleichlichen Sinn fürs gerechte Teilen“ gehabt[9].

Mor Nguer Ndiaye war ein 22-jähriger Fußballnarr, der sich in M’Bour[10] in einer Sportschule in Ausbildung befand. Am 1. Juni um halb sieben Uhr abends ging er von daheim in Pikine weg, um zu trainieren. Den Warnungen seiner Mutter Folge leistend aufzupassen, um nicht in die Demonstrationen verwickelt zu werden, wählte er einen anderen Weg als üblich, um auf den Fußballplatz zu gelangen. Das erwies sich als tödlich. Er geriet in eine Verfolgungsjagd zwischen Polizei und Protestierenden. Eine 9mm-Kugel erwischte ihn am Kinn. Ins Thiaroye-Spital gebracht, starb er um 1h30 nachts.

Trotz der Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Demonstrierenden wollte der Bäcker Seny Coly am 1. Juni 2023 in die Arbeit gehen. Er verließ sein Zuhause in Niarry Tally (Teil von Grand Dakar), doch auf dem Weg in die Bäckerei in den Parcelles assainies (in Dakars Norden) verirrte sich eine Kugel… Der 26-jährige Sterbende wurde von der Gendarmerie aufgelesen und ins Général Idrissa Pouye-Spital in Grand Yoff gebracht, erlag dort aber seinen Verletzungen an Lunge, Leber, Eingeweiden. Er hätte vorgehabt, nach Tabaski, dem muslimischen Opferfest, zu heiraten. Außer seiner Ehefrau in spe hinterließ er zwei Kinder, ein Mädchen und einen Buben.

Eine Kugel hat am 1. Juni in Ziguinchor dem Leben Omar Sarrs ein Ende bereitet. Über ihn hat das Kollektiv CartograFreeSenegal nichts herausfinden können.

In der Casamance, im äußersten Süden des Landes, fanden sechs der neunundzwanzig Morde statt: fünf in der regionalen Hauptstadt Ziguinchor (am Casamance-Fluss) und einer in Cap Skirring im äußersten Südwest-Eck Senegals, fast schon in Guinea-Bissau.


die schwarze Linie unmittelbar unterhalb von Cap Skirring stellt die senegalesische Grenze dar [11]

Sidya Diatta hasste Ungerechtigkeiten. Seit 2018 gehörte er der Oppositionspartei Pastef an und “beteiligte sich an allen ihren Schlachten“[12]. Eine Kugel setzte dem Leben des 32-Jährigen am 1. Juni 2023 in Ziguinchor ein abruptes Ende. Bis dahin war er für seine Brüder und Schwestern eine große Stütze gewesen. Nach seinem Studienabschluss an der UCAO, der Katholischen Universität Westafrikas[13], hatte er keine Arbeit gefunden und hatte sich der Landwirtschaft zugewandt.

Hat einer die Pilgerfahrt nach Mekka machen können, wird er ab sofort “El Hadj“ genannt (das Äquivalent für Frauen ist “Hadja“). Das wird zum Namensteil. Oft wird er nur als El Hadj, also als Mekka-Pilger, tituliert. Der aus Grand-Yoff in Dakars Norden stammende El Hadj Mamadou Cissé studierte moderne Literaturwissenschaft und war auf Twitter sehr aktiv. Er war weithin für seine Frömmigkeit und Gutherzigkeit bekannt. Doch er wurde nur 26 Jahre alt. Da die Moschee, in der er üblicherweise betete, geschlossen war, war er in eine andere Moschee hinter seinem Zuhause ausgewichen. Auf dem Rückweg bekam er einen Schuss ab. Ins Idrissa Pouye-Spital eingeliefert, hat er die Wunde an der Schulter nicht überlebt. Wäre er am Leben, so wäre er inzwischen in Kanada, um dort seine Studien fortzusetzen.

Der Kaufmann Tamsir Cissé ist am 2. Juni 2023 in Golf Sud im Norden von Pikine gestorben. Todesursache: eine Kugel der senegalesischen Sicherheitskräfte. Sonst hat CartograFreeSenegal über ihn offenbar nichts herausfinden können.

Vier der neunundzwanzig Ermordeten konnten nicht identifiziert werden. Für drei weitere ist das Alter nicht bekannt. Hier ein Screenshot der Grafik, die das Alter der einzelnen Opfer abbildet:


das Alter der Ermordeten (hier für 22 der 29) lag zwischen 17 und 53, die allermeisten waren zwischen 17 und 34 Jahren jung

Der zweitälteste unter den Toten war Mamadou Moustapha Gueye, er war 44. Der Filmemacher war unter den neunundzwanzig einer der drei, die nicht an einer Kugel starben. Er befand sich auf dem Rückweg von der Arbeit nach Hause. In den Parcelles Assainies waren heftige Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und Polizei zugange und letztere setzte in Hülle und Fülle Tränengas ein. Mamadou, der seit seiner Kindheit an Asthma litt, hatte einen Anfall. Er starb auf dem Weg ins Général Idrissa Pouye-Spital in Grand Yoff. Ironie des Schicksals: Er hatte zuletzt an einem Filmprojekt über Friedhöfe gearbeitet. Außer seiner Familie wird er auch seinen SchülerInnen des “Vorstadt-Kinos“ fehlen, die er umsonst in Kinematographie unterrichtete.

Mich – bis hin zur Reihenfolge der Opfer – auf die Webseite von CartograFreeSenegal verlassend, habe ich Ihnen nunmehr zehn der neunundzwanzig vom senegalesischen Regime im Juni 2023 Ermordeten präsentiert, ein Drittel. Auch die restlichen neunzehn verdienen dieselbe Zuwendung, denselben Respekt, dasselbe Interesse – doch ich entlasse Sie jetzt, liebe LeserInnen, habe ihre Zeit schon genug in Anspruch genommen. Erwähnt seien noch Mamadou Ndoye und Lassana Diarisso, die beiden anderen nicht an Kugeln der Sicherheitskräfte Gestorbenen. Ersterer war geistig behindert. Der 53-Jährige (und somit Älteste unter den neunundzwanzig) ist von einem Polizeiauto in Bargny überfahren worden. Lassana Diarisso hingegen hatte sein Auto absichtlich weit weg von den Protesten geparkt, damit es nicht in Mitleidenschaft gezogen würde. Dann wurde er von einem Gendarmerie-Auto angefahren. Statt ins Spital wurde er auf den Gendarmerie-Posten mitgenommen und dort offenbar gefoltert. Seine Angehörigen, die sich für seine Befreiung einsetzten, hörten seine Schmerzensschreie. Am Tag darauf, Freitag, den 2. Juni, wurde sein lebloser Körper gefunden.

Wie bereits erwähnt geschah die Mehrzahl der neunundzwanzig Morde im Großraum Dakar.


Morde im Großraum Dakar [14]

Die von CartograFreeSenegal geleistete Recherche- und Dokumentationsarbeit ist überaus wertvoll.

Der menschenverachtenden Brutalität – es wäre oft durchaus angebracht, von Terror zu sprechen – der Mächtigen und ihrer HandlangerInnen können wir am besten begegnen, wenn wir auf Solidarität und Empathie setzen und ihr die respekt-, ja liebevolle Zuwendung echten humanen Interesses entgegensetzen.


Widerstand, darunter freilich auch SklavInnenaufstände, gilt es zu würdigen, und sei es durch kleine Denkmäler wie hier in Curaçao [15]

* * *

Endnoten:

[1] Die 444 km2 vor Venezuelas Küste gehören den Niederlanden. Foto Charles Hoffman 6.2.2010, zugeschnitten GL, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Monument_to_1795_Slave_Revolt,_Cura%C3%A7ao.jpg.

[2] Petra Radeschnig gilt – wie stets – mein herzlicher Dank fürs Lektorieren!

[3] Siehe den Kasten am Ende von RFI, Sénégal: la marche contre le report de la présidentielle repoussée, suite à son interdiction, RFI 13.2.2024 um 9h51, https://www.rfi.fr/fr/en-bref/20240213-s%C3%A9n%C3%A9gal-le-collectif-de-la-soci%C3%A9t%C3%A9-civile-prot%C3%A9geons-notre-%C3%A9lection-annule-la-marche-pr%C3%A9vue-ce-mardi-%C3%A0-dakar-et-convoque-une-conf%C3%A9rence-de-presse.

[4] Bilanz des Einschreitens der Ordnungskräfte: 3 Tote und – laut Opposition – 266 Verhaftete. Siehe Charlotte Idrac, Crise au Sénégal: le chef de la Cédéao Bola Tinubu se rend à Dakar, RFI 12.2.2024 um 0h57, https://www.rfi.fr/fr/afrique/20240211-crise-au-s%C3%A9n%C3%A9gal-le-chef-de-la-c%C3%A9d%C3%A9ao-bola-tinubu-se-rend-%C3%A0-dakar.

[5] Jeune Afrique und AFP, Au Sénégal, trois jeunes tués lors d’une journée de contestation réprimée, Jeune Afrique 10.2.2024, https://www.jeuneafrique.com/1535800/politique/au-senegal-deux-jeunes-tues-lors-dune-journee-de-contestation-reprimee/.

[6] Auf ihre Spur gebracht hat mich Clair Rivière, Au Sénégal, des visages et des noms sur les morts de la répression, Afrique XXI 9.2.2024, https://afriquexxi.info/Au-Senegal-des-visages-et-des-noms-sur-les-morts-de-la-repression.

[7] Die Karten für meinen Artikel sind Resultate des Zoomens auf der CartograFreeSenegal-Webseite: https://www.google.com/maps/d/viewer?mid=1VaAFhuWqunEVR9vqIti_ehenmCKGRHM&femb=1&ll=14.270261557604178%2C-13.863547228734017&z=7.

[8] Ausschnitt, in die Vertikale gedreht. Bei allen Personen-Fotos handelt es sich um Ausschnitte, in die Vertikale gedreht habe ich sie, wo es nötig war.

[9] Im afrikanischen Französisch klingt das viel schöner: “un jeune digne“ sowie “un sens du partage inégalable“.

[10] Eine Küstenstadt südöstlich von Dakar.

[11] Aus der Casamance stammt Ousmane Sonko, dessen Verurteilung die Proteste im Juni 2023 auslöste; https://www.google.com/maps/d/viewer?mid=1VaAFhuWqunEVR9vqIti_ehenmCKGRHM&femb=1&ll=12.445745738767469%2C-16.513737803282055&z=11.

[12] Meine ausnahmsweise am Original klebende Übersetzung von “il était de toutes les batailles“.

[13] Université Catholique de l‘Afrique de l’Ouest/UCAO. Die senegalesische Filiale befindet sich in Dakar.

[14] Die überwiegende Mehrheit der Morde – 23 von 29 – wurde in Dakar & Umgebung begangen: https://www.google.com/maps/d/viewer?mid=1VaAFhuWqunEVR9vqIti_ehenmCKGRHM&femb=1&ll=14.735348478723086%2C-17.286962558811272&z=12.

[15] Im Hintergrund das Landhuis Kenepa, Foto Charles Hoffman 6.2.2010, in die Horizontale gedreht GL, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Monument_to_1795_Slave_Revolt,_Landhuis_Kenepa,_Cura%C3%A7ao.jpg.

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