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Äthiopien kommt nicht zur Ruhe

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Foto: in der Region Amhara [1]

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Günther Lanier, Ouagadougou 13. September 2023[2]

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Kaum ist der Krieg in Tigray mehr oder wenig zu Ende – damit dort wirklich Frieden herrscht, bleibt noch genug zu tun[3] –, geht es in Amhara los. Dort weigern sich lokale Milizen, die Addis im Krieg gegen Tigray unterstützt haben, sich aufzulösen bzw. in die Armee integrieren zu lassen[4] und es ist in letzter Zeit in mehreren Städten zu blutigen Kämpfen gekommen[5]. Doch dieser Konflikt ist mitnichten neu, seine Wurzeln liegen in der Ethnisierung der äthiopischen Politik seit Anfang der 1990er Jahre.

Dazu lasse ich heute Yirga Gelaw Woldeyes zu Wort kommen, einen äthiopischen Experten, der im australischen Perth am Menschenrechtserziehungszentrum (Centre for Human Rights Education) der Curtin-Universität forscht und unterrichtet. Ihm gilt mein herzlicher Dank für die Erlaubnis, seinen Artikel ins Deutsche zu übersetzen.


Die äthiopischen Regionen 2020 [6]

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Die äthiopischen Amhara werden als FeindInnen dargestellt. Die gefährliche Geschichte ethnischer Politik

Yirga Gelaw Woldeyes

im englischen Original[7] veröffentlicht auf The Conversation, 6. September 2023

https://theconversation.com/ethiopias-amhara-people-are-being-portrayed-as-the-enemy-the-dangerous-history-of-ethnic-politics-212626

Die äthiopische Regierung hat am 4. August 2023 für die Amhara-Region den Ausnahmezustand erklärt und hat die Armee geschickt, um die Fano anzugreifen, eine lokale bewaffnete Miliz. Manche meinen, Äthiopien läuft Gefahr, abermals in einen Bürgerkrieg zu schlittern.

Es sind erst zehn Monate seit dem Ende eines Bürgerkriegs, in dem circa 600.000 ÄthiopierInnen getötet wurden, womit es sich um den tödlichsten Krieg des 21. Jahrhunderts handelt.

Die Auseinandersetzung fand in erster Linie statt zwischen der Bundesregierung, die von der Oromo-dominierten Wohlstandspartei geführt wurde, und der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF), die bis 2018 die Regierung dominiert hatte. Als die TPLF in die Amhara-Region eindrang, gewalttätig gegen ZivilistInnen vorging und Städte einnahm, half Fano der Regierung, vor Ort die Stabilität zu wahren. Mit ihrer Hilfe gelang es Premierminister Abiy Ahmed, die TPLF zurück nach Tigray zu drängen.

Während des Krieges und auch danach kam es in der Oromia-Region, in der Benshangul-Gumuz-Region und in anderen Regionen Äthiopiens zu Massakern und Massenvertreibungen von Amhara. Es gibt zahlreiche Berichte von Vergewaltigungen, willkürlichen Verhaftungen, Entführungen, Zwangsräumungen und Verbrennen von Menschen bei lebendigem Leib.

Ein unabhängiger Bericht beschreibt, wie orthodoxe ChristInnen, was als gleichbedeutend mit Amhara angesehen wurde, “mit Macheten zerhackt, mit Speeren erstochen, mit Sensen niedergemäht, mit Stöcken geschlagen und zu Tode gesteinigt wurden.“

Das Friedensabkommen zwischen TPLF und Regierung von November 2022 brachte Tigray und anderen Regionen relative Ruhe. Aber die Amhara wurden in dem Abkommen nicht berücksichtigt und werden weiterhin angegriffen, sogar von Regierungstruppen.

Es war in diesem Kontext, dass sich die amharische Fano-Miliz geweigert hat, dem Befehl der Bundesregierung Folge zu leisten, ihre Waffen auszuhändigen und sich in die Polizei und die Bundesarmee integrieren zu lassen.

Die Antwort der Regierung war, amharische Städte mit Drohnen und schwerer Artillerie zu bombardieren. Zudem kam es zu Massenverhaftungen und zur Festnahme von Führern der Amhara.

Ich beschäftige mich mit Geschichte, Menschenrechten und Dekolonisierung in Afrika mit Schwerpunkt Äthiopien. Ein Diskurs, der das Volk der Amhara als FeindInnen der Nation darstellt, wird seit fast 50 Jahren nicht hinterfragt. Was sich nunmehr geändert hat, ist, dass von Rhetorik zu weitverbreiteter, von der Regierung abgesegneter Gewalt übergegangen wurde.

Der Artikel 2 der UN-Völkermordkonvention definiert Genozid als “Handlungen, die in der Absicht begangen (werden), eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Nach weitverbreiteten Attacken gegen Amhara 2021 warnte die äthiopische Menschenrechtskommission vor “dem Risiko gewalttätiger Verbrechen inklusive eines Genozids“. Im Februar 2023 berichtete eine US-amerikanische NGO, die sich mit Genozid-Prävention beschäftigt, dass in zwei administrativen Zonen “sämtliche Oromia-Streitkräfte etwas betreiben, das wie eine systematische Politik des Ausradierens der Präsenz von Amhara aussieht“.

Es gilt, ein Scheinwerferlicht auf das zu werfen, was zugange ist, und das jahrzehntelange Projekt ethnischer Politik offenzulegen, das es ermöglicht, die Amhara anzugreifen.

Die Geschichte ethnischer Politik in Äthiopien

Äthiopien blickt auf eine lange Geschichte ethnischer Harmonie zurück. Äthiopische HerrscherInnen kamen früher aus verschiedenen Regionen und waren oft gemischter Abstammung. Zum Beispiel hatte König Menelik II (1844-1913) Amhara- und Oromo-Vorfahren. Der Oromo-König Mikael (1850-1918) herrschte über die Amhara-Region Wollo. Sein Sohn, König Eyasu, erbte Meneliks Thron.

Der letzte Monarch, Kaiser Haile Selassie, hatte Amhara- und Oromo-Ahnen, wie auch Abiy selbst. Bis vor kurzem war am ethnischen Mischen nichts Anstößiges. Vielmehr war es Äthiopiens Fähigkeit zuzuschreiben, sich über ethnische, linguistische und religiöse Grenzen hinweg zusammenzuschließen, dass Italien bei seinem Kolonialisierungsversuch 1896 in der Schlacht von Adwa besiegt werden konnte.

Als unter dem faschistischen Ministerpräsidenten Benito Mussolini einmarschiert und Äthiopien von 1935 bis 1942 besetzt wurde, rückte die Aufteilung des Landes entlang ethnischer Grenzen in den Mittelpunkt. Dabei wurde nach Plänen vorgegangen, die der österreichische Nazi Roman Prochazka entworfen hatte, für den die Amhara die FeindInnen aller anderen ethnischen Gruppen waren.

Nach dem Hinauswurf Italiens sandte Haile Selassie ÄthiopierInnen aus verschiedenen ethnischen Gruppen zur höheren Bildung nach Übersee. In den 1960ern, dem Jahrzehnt der Revolutionen, bildeten StudentInnen die äthiopische StudentInnen-Bewegung, um die Monarchie zu beseitigen. Dabei entstanden, was die Staatsbildung betrifft, zwei ideologische Positionen:

                Die erste sah die Monarchie als ein klassenbasiertes Feudalsystem, das es zu zerstören galt. Dabei war ethnische Politik ein Hindernis beim Erreichen einer sozialistischen Republik.

                Die zweite machte sich die stalinistische Herangehensweise zu eigen, bei der kulturelle und linguistische Gruppen innerhalb eines Landes als Nationen definiert wurden. Die Monarchie wurde als ethnisch fundierte koloniale Macht gesehen.

Mitglieder der ersten Gruppe gingen eine Allianz mit dem Derg ein, ein Komitee aus Armeeoffizieren, das Haile Selassie 1974 stürzte, sich aber weigerte, eine zivile Regierung einzusetzen. Der Derg regierte diktatorisch, zerstörte die Monarchie und alle, die sich seiner Macht widersetzten.

Die StudentInnen-Gruppen, welche die Monarchie als eine ethnisch basierte koloniale Macht sahen, gründeten die Eritreische Volksbefreiungsfront und die Volksbefreiungsfront von Tigray. Die beiden verbündeten sich, organisierten weitere ethnische MitkämpferInnen und entmachteten den Derg 1991. Dann stand die TPLF einer Übergangsregierung vor, die Eritreas Sezession absegnete und die heutige Verfassung beschloss.

Das bereitete die Bühne für 27 Jahre autokratischer Herrschaft, während derer den Amhara die Rolle der UnterdrückerInnen aller ethnischen Gruppen zugeteilt war, währen sich die TPLF als A und O der Befreiung aller anderen ÄthiopierInnen inszenierte.

Die Amhara als nationale FeindInnen

Unter der Verfassung von 1995 wurden Äthiopiens 80 oder mehr ethnolinguistische Gemeinschaften als souveräne “Nationen“ geframt, vorgeblich, um “historisch ungerechte Beziehungen“ richtigzustellen.

Obwohl die äthiopische Monarchie in Tigray begründet wurde und viele Tigray (genauso wie Amhara und Menschen gemischter Abstammung) das Land beherrscht hatten, griff die TPLF die Amhara heraus als monarchistische UnterdrückerInnen aller anderen ethnischen Nationen. Erleichtert wurde das dadurch, dass äthiopische KaiserInnen ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft Amharisch als Hofsprache verwendeten.

Ethnische Politik wurde in Gesetze gegossen. Sobald die TPLF an die Macht kam, mussten die Personalausweise aller BürgerInnen ihre Ethnie angeben. Individuen gemischter Herkunft mussten eine ethnische Identität wählen. Bundesstaaten (meist wird von Regionen gesprochen, GL[8]) schufen ihre eigenen Verfassungen, Grenzen, Fahnen und Hymnen. Wie der äthiopische Historiker Yohannes Gedamu anmerkt, statuieren viele Verfassungen, dass der “Besitz der Region“ auf Ethnizität beruht, woraus sich Fälle ergeben, wo “Amhara in mehreren Bundesstaaten als SiedlerInnen in ihrem eigenen Land angesehen werden.“

Die Amharisch sprechenden Menschen der Amhara-Region und auch darüber hinaus leben seit tausenden von Jahren in Äthiopien, wie es die Millionen Manuskripte belegen, die in ihrer alten Ge’ez-Sprache geschrieben sind, der Basis von Amharisch und Tigrinya. Ihre fast jahrtausendealten, von äthiopischer orthodoxer Architektur und Kunst inspirierten Felskirchen bringen die nach wie vor bestehende Verbindung der Amhara mit dem Land zum Ausdruck.

Eine einheimische Menschengruppe als “SiedlerInnen“ abzustempeln, ermöglicht es denen, die Gewalttaten begehen, die Sprache der Dekolonisierung zu verwenden, um Mord zu rechtfertigen. Die Amhara werden als neftegna etikettiert, was ‘königlicher Soldat’ bedeutet, obwohl die Monarchie eine Institution war, die von Königen aus verschiedenen ethnischen Gruppen geführt wurde.

Und sogar, wenn jemand glaubt, dass die Amhara monarchistische UnterdrückerInnen waren: Die Monarchie ist vor fast 50 Jahren abgeschafft worden und die Amhara waren seitdem von der Macht ausgeschlossen. Die These, dass sie UnterdrückerInnen sind, entspricht nicht der Wirklichkeit.

Auf dem Weg zum Genozid

Die Bundesregierung hat ihre Verbindungen zum früheren Widersacher TPLF gefestigt. Verteidigungsminister Abraham Belay hat angekündigt, dass die äthiopische Armee die Amhara-Verwaltung in Wolkaite, einer zwischen Tigray und Amhara umstrittenen Region, auflösen würde.

Im August 2023 sind VertreterInnen der Oromia-Regierung nach Tigray gereist, um den Krieg zu erklären: “Der Krieg (gegen die Amhara, YGW), den wir soeben begonnen haben, ist ein großer Krieg. Gegenwärtig will die Gruppe, die wir bekämpfen, uns allen mit Gewalt eine Religion, ein Land und eine Sprache aufzwingen. Der Zeitpunkt ist gekommen, wo Tigray und Oromo sich zusammenschließen müssen, um gemeinsam mit anderen ÄthiopierInnen diese Kraft zu besiegen, damit Äthiopien blühen kann.“

In Wirklichkeit hat Amhara die Macht nicht, das zu tun.

Äthiopien kann eine Lektion von Ruanda lernen. Eine ähnliche Dämonisierung der Tutsi durch die Hutu-Völkermord-AgitatorInnen führte vor 30 Jahren zu einem Genozid, in dem 800.000 Tutsi und Tutsi-SympathisantInnen getötet wurden. Die Tutsi wurden als Fremde beschrieben, die Verbindungen zum lange schon toten belgischen Kolonialismus hätten. Personalausweise mit eingetragener Ethnizität wurden zum Identifizieren der Opfer verwendet.

Seit die Dämonisierung der Amhara in Verfassungen, Regierungspolitik und entmenschlichende Staatsbildungsrhetorik integriert worden ist, ist sie durchgesickert zu Menschen, die zuvor harmonisch zusammenlebten.

Das sind die Auswirkungen ethnischer Politik in Äthiopien. Ohne vermehrte Kenntnisnahme sowie Aktivwerden der Medien und globaler AkteurInnen, könnte Äthiopien auf einen Genozid à la Ruanda zusteuern.

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in der Region Amhara [9]

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Endnoten:

[1] Foto Ludger Heide28.12.2015, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Amhara_Region_(24082649881).jpg.[2] Petra Radeschnig gilt – wie stets – mein herzlicher Dank fürs Lektorieren!

[3] Siehe z.B. Semir Yusuf, Ethiopia’s transition depends on both dialogue and transitional justice, Institute for Security Studies 1.9.2023, https://issafrica.org/iss-today/ethiopias-transition-depends-on-both-dialogue-and-transitional-justice.

[4] Diesen Beschluss hatte Addis im April 2023gefasst.

[5] Siehe z.B. Kalkidan Yibeltal, Fighting halts flights to famous Ethiopian church town, BBC Africa Live 2.8.2023 um 10h15; RFI, L’Éthiopie déclare «l’état d’urgence» après des affrontements armés en région Amhara, RFI 4.8.2023 um 11h17, https://www.rfi.fr/fr/en-bref/20230804-l-%C3%A9thiopie-d%C3%A9clare-l-%C3%A9tat-d-urgence-apr%C3%A8s-des-affrontements-arm%C3%A9s-en-r%C3%A9gion-amhara; Kalkidan Yibeltal, Intense fighting continues in Ethiopia’s Amhara state, BBC Africa Live 8.8.2023 um 9h05; sehr viel ausführlicher: Yohannes Gedamu, Ethiopia’s Amhara crisis: Abiy’s political failures threaten a return to war, The Conversation 24.8.2023, https://theconversation.com/ethiopias-amhara-crisis-abiys-political-failures-threaten-a-return-to-war-211754.

[6] Erstellt von Jfblanc am 8.9.2020, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Regions_of_Ethiopia_EN.svg.

[7] Ethiopia’s Amhara people are being portrayed as the enemy: the dangerous history of ethnic politics.

[8] Auch auf Englisch wird fast immer “region“ verwendet, aber da gibt es die Möglichkeit, von “regional states“ zu schreiben, wie Yirga Gelaw Woldeyes es hier tut. Dafür fällt mir keine passende Übersetzung ein.

[9] Foto Ludger Heide 28.12.2015, leicht überarbeitet GL, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Amhara_Region_(24082651871).jpg. Die beiden Fotos und die Karte zum heutigen Artikel habe ich ausgesucht, sie sind nicht von Yirga Gelaw Woldeyes – für sein Foto zum Artikel habe ich die Rechte nicht.

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