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Zehen, die sehen

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Foto: Nyamata, Genozid-Erinnerungskirche[1]

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Günther Lanier, Ouagadougou 13.4.2022[2]

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Die 1956 geborene Scholastique Mukasonga und ihre Tutsi-Familie waren ab 1960 Binnenflüchtlinge. Daheim waren sie in Magi[3] gewesen, einem kleinen Dorf zweieinhalb Kilometer westlich von Kibayi im äußersten Süden Ruandas, nahe der burundischen Grenze, heute in der Provinz Butare gelegen[4]. Von dort wurde die Familie nach Nyamata deportiert, per Luftlinie sind das etwa 70 Kilometer. In einer eher unwirtlichen Gegend gelegen und daher in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch kaum besiedelt, entwickelte sich hier in der Nähe (südlich) von Kigali eine Stadt, die 1994 über 100.000 EinwohnerInnen gehabt haben soll, etwa die Hälfte Hutu, die andere Hälfte hierher verfrachtete oder geflohene Tutsi.


Nyamata-Gedenkstätte, Tabernakel mit Kugel- und Granateneinschusslöchern[5]

In Nyamata befindet sich eine der sechs nationalen Genozid-Gedenkstätten Ruandas. Rund um die in doppelter Hinsicht desakralisierte Kirche finden sich in Massengräbern die Überreste von 45.308 Opfern des Genozids, die 1994 in der Kirche und rund um sie umgebracht worden waren[6].

Scholastique Mukasonga hat Nyamata rechtzeitig verlassen. 37 Mitgliedern ihrer Familie nicht.

“La femme aux pieds nus“, also “Die bloßfüßige Frau“ ist das zweite von Scholastique Mukasonga veröffentlichte Buch[7]. Es “spielt“ in Nyamata, handelt von der Kindheit der Autorin, viel mehr aber noch von ihrer Mutter, Stefania. Ihr gegenüber hat sie ihre Pflicht nicht tun können. Die hatte ihren Töchtern nämlich aufgetragen: “Wenn ich sterbe, wenn ihr mich tot seht, dann deckt meinen Körper zu. Niemand darf meinen Körper sehen, der Körper einer Mutter darf nicht gesehen werden. Ihr, meine Töchter, müsst ihn zudecken, das könnt nur ihr. Niemand darf die Leiche einer Mutter sehen, sonst wird euch das verfolgen… verfolgen bis zu eurem eigenen Tod, wo ihr dann auch jemanden brauchen werdet, um euch zuzudecken.“[8]

Das Buch ist das Leichentuch, mit dem Scholastique Mukasonga ihre Mutter nicht schmücken konnte[9]. Es ist eine Wiederauferstehung: Auf den Seiten des Buches lebt die Mutter von neuem. Es ist auch in gewissem Sinn Zeuge eines Triumphes: Stefania ging es nie darum, sich selbst zu retten, nur um ihre Kinder ging es ihr[10]. Mit ihrer heute als Schriftstellerin berühmten Tochter ist ihr das gelungen.


Scholastique Mukasonga bei einer Lesung und Diskussion in Boston[11]

In diesem Buch bin ich auf eine Geschichte gestoßen, die ich Ihnen auf Deutsch weitererzählen möchte – dass sie auch mit dem Titel des Buches zu tun hat, ist vielleicht kein Zufall[12]:

Von allen Körperteilen waren es die Füße, die Verletzungen am meisten ausgesetzt waren. Wir gingen barfuß. Galt es nach der abendlichen Rückkehr aus der Schule noch, Wasser oder trockenes Holz zu holen, so überraschte uns auf dem Rückweg oft die Dunkelheit – in Ruanda wird es zu allen Jahreszeiten um sechs Uhr Nacht. Im Finstern, auch weil wir den Kopf gerade halten mussten, um Holzbündel oder Wasserkrug nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen, stießen die Zehen ununterbrochen an Steine, rieben sich an Rillen im Boden wund. Wenn ich daheim ankam, bluteten meine Füße, die Zehennägel gebrochen oder herausgerissen. Alexia hingegen, wenn sie mich begleitete, kam immer ohne den geringsten Kratzer an ihren Füßen zurück, als wäre sie über die Unebenheiten und die Tücken des Weges drüber geflogen. “Alexia“, sagte meine Mutter, “hat Zehen, die sehen. Du und Julienne (deren Füße nämlich im selben Zustand wie die meinen waren), eure Zehen sehen einfach nicht. Aber ich werde ihnen das Sehen beibringen.“ Nach dem Abendessen, in der finsteren Nacht, brachte Stefania unsere Zehen das Sehen bei. Sie stellte aus trockenen Zweigen eine Fackel her und kehrte den Boden vor unseren Füßen mit ihrer Flamme. Sie maßregelte unsere Zehen und insbesondere die großen Zehen, die den Gefahren des Pfades am meisten ausgesetzt waren. “Mach die Augen auf! Und dass du ab sofort in der Nacht siehst! Dass du deinen Weg kennst!“ Aber die Zehen Juliennes ebenso wie die meinen versteiften sich darauf, nichts zu sehen, ihre Augen wollten partout nicht aufgehen. Unsere Mutter ließ sich nicht entmutigen. “Wenn du gehst“, riet sie, “musst du dich an dein Herz wenden, das Licht in deinem Körper verbreitet dein Herz. Also sag ihm, es soll deine Zehen daran erinnern, dass sie schauen müssen, wo du deinen Fuß hinsetzt und es wird ihnen sagen: ‘Es ist Nacht. Öffnet die Augen. Ich schaue nach vorn – ihr, schaut nach unten’.“ Aber nichts half, die Zehen wollten nicht gehorchen. Wir mussten wieder von vorne beginnen, den Lernprozess verlängern. Wir gingen weiter von zu Hause weg, auf dem Weg zur Straße. Vor uns unsere Mutter, rückwärtsgehend, tief gebeugt. Die Flamme ihrer Fackel berührte fast unsere Zehen. An manchen Abenden verließen wir den Weg, suchten in der Wildnis nach dem allerdunkelsten Ort, wo den Augen unserer Zehen, so hoffte Stefania, nichts anderes übrigbleiben würde, als aufzugehen. Doch leider: Weder Stefanias Beschwörungen, noch ihre Fackel, noch die Finsternis des dunkelsten Waldes überzeugten unsere Zehen, die Augen zu öffnen. Sie blieben auf ewig zu. Unsere Mutter machte sich um Juliettes und meine Zukunft Sorgen: “Mit Füßen wie den euren“, seufzte sie, “wenn ihr alt genug sein werdet, um zu heiraten, dann frag’ ich mich, wer euch wollen wird.“[13]


Nyamata-Gedenkstätte, Taufbrunnen[14]

* * *

Endnoten:

[1] Foto Dave Proffer 21.3.2007, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Nyamata_Genocide_Memorial_Church_-_Flickr_-_Dave_Proffer_(8).jpg.

[2] Petra Radeschnig gilt – wie stets – mein herzlicher Dank fürs Lektorieren!

[3] Siehe https://www.keskevilles.com/rwanda/butare/magi.html.

[4] Damals gab es dort die Provinz Gikongoro.

[5] Foto Fanny Schertzer 1.8.2007, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Nyamata_Memorial_Site_8.jpg.

[6] Siehe https://genocidearchiverwanda.org.rw/index.php/Nyamata_Memorial.

[7] Scholastique Mukasonga, La femme aux pieds nus, Paris (Gallimard) 2008.

[8] Ebd., p.12. Übersetzung hier und in der Folge GL.

[9] Ich zitiere die das Buch kurz zusammenfassende Tochter auf https://www.babelio.com/livres/Mukasonga-La-femme-aux-pieds-nus/49331.

[10] Scholastique Mukasonga, La femme aux pieds nus, Paris (Gallimard) 2008, p.22.

[11] Foto Center for the Study of Europe Boston University 23.9.2019, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:A_Reading_%26_Conversation_with_Scholastique_Mukasonga_(48790789487).jpg.

[12] Scholastique Mukasonga, La femme aux pieds nus, Paris (Gallimard) 2008, p.72-74.

[13] Im folgenden Absatz erzählt Scholastique Mukasonga, wie sie bei jedem Schuhkauf fürchtet, die Verkäuferin – oder KundInnen – könnten beim Anblick ihrer Füße erstaunte, boshafte oder verächtliche Blicke werfen – glücklicherweise gäbe es Strümpfe, die manch’ Mangel verbergen…

[14] Foto Fanny Schertzer 1.8.2007, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Nyamata_Memorial_Site_9.jpg.

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