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Wiedergutmachung mit Hilfe der AhnInnen

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unweit der Pforte ohne Wiederkehr: kleiner Vaudou-Tempel am Strand von Ouidah [1]

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Günther Lanier, Ouagadougou 13. November 2024[2]

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Wie gehen wir um mit Schuld, die nicht wir selbst, sondern unsere Vorfahren auf uns geladen haben?

Zwar sind wir Nachgeborenen nicht belangbar, dennoch gehören wir vielleicht noch bis zum heutigen Tag zu den NutznießerInnen.

So hat eine vor drei Monaten veröffentlichte Studie herausgefunden, dass die 100 (von 535) ParlamentarierInnen des US-Kongresses, deren VorfahrInnen 16 Versklavte oder mehr besaßen, ein 5-mal so hohes Vermögen haben wie ihre KollegInnen ohne solche VorfahrInnen – stattliche 5,6 statt 1,1 Millionen USD[3].

Berlin wehrt sich mit Händen und Füßen gegen eine echte Anerkennung des Genozids, den Deutschland Anfang des 20. Jahrhunderts in Namibia (Deutsch-Südwestafrika) begangen hat. Um den in Tansania (Deutsch-Ostafrika) steht es noch schlechter. Und was in der Nazi-Zeit in Griechenland und Polen u.v.a.m. an Gräuel angerichtet wurde, harrt offiziellerdeutscherseits nach wie vor eines würdigen Umgangs. Österreich ist diesbezüglich keineswegs außer Obligo, es konnte sich zwar als erstes Opfer Hitlers inszenieren, doch wissen wir sehr gut, dass der Anteil der Nazis an der Bevölkerung in der “Ostmark“ dem im deutschen Stammland ebenbürtig war.

Was die Versklavung und Verschiffung von zig Millionen (nicht nur, aber in allererster Linie) AfrikanerInnen betrifft, hat der Commonwealth-Gipfel im Oktober ein positives Signal gesendet, wurden da doch “bedeutungsvolle, wahrheitsgetreue und respektvolle Gespräche“ zur gemeinsamen Aufarbeitung von Kolonialismus und Versklavung vereinbart. Sogar um die diesbezüglich anstehende “ausgleichende Gerechtigkeit“ soll es dabei gehen. Zwar hat der britische (Labour-)Premierminister Keir Starmer deutlich gemacht, dass eine finanzielle Entschädigung nicht in Frage kommt, doch die Erklärung zu den zukünftigen Gesprächen kam gegen seinen Widerstand zustande – und er hat sie mit unterzeichnet[4]. Kurz darauf war der – schwarze – britische Außenminister David Lammy bei seinem Nigeria-Besuch zu hören, als er erklärte, bei solchen Reparationen ginge es nicht um Geld, darüber wollten die Leute gar nicht reden. Es ginge um Symbolisches. Und zur Krönung: Dass es bei der Verschiffung von Millionen über den Atlantik “entsetzlich und horrend“ (horrific and horrendous) zugegangen sei und “Narben“ geblieben seien, das wisse er als Nachkomme von Versklavten natürlich[5]. Doch nichtsdestotrotz: Der Druck auf die Ex-Kolonialmacht steigt: Die frisch gekürte Commonwealth-Generalsekretärin, die bisherige Außenministerin Ghanas Shirley Ayorojor Botchwey, hat Versklavung und die Reparationen dafür zum Fokus ihrer Amtszeit erklärt[6].


Vodun-Statuette der Ewe, Togo [7]

Von einer völlig anderen Art der “Aufarbeitung“ und der zyklischen, institutionalisierten Wiedergutmachung von lang vergangenem, an Versklavten begangenem Unrecht berichtet Léonora Miano im Epilog zum hier schon mehrmals referierten Werk “Die Welten der Versklavung. Geschichte im Vergleich“[8]. Die prominente frankophone Literatin kamerunischen Ursprungs – Autorin von Romanen, Essays, Theaterstücken – berichtet vom Tchamba- oder Mami Tchamba-Vodun[9]-Kult. Die AnhängerInnen dieses Besessenheitskultes sind vor allem unter den Ewe und Mina im Süden Togos und auch im Süden Benins zu finden. Léonora Miano lebt seit 2019 in Togo.

Der Tchamba-Kult, schreibt sie, “vergegenwärtigt die Geister der Kriminellen und ihrer Opfer. Es werden nämlich in den Versklavten-Handel involvierte AhnInnen ebenso angerufen wie diejenigen, die im Land der Deportation zugrunde gegangen sind. Um dieses Zusammenbringen entgegengesetzter, eigentlich unversöhnlicher Figuren wirklich zu begreifen, muss ein Aspekt des Vodun verstanden werden, der sich teilweise im Funktionieren der Gesellschaft widerspiegelt.“[10] Dichotomie und Ambiguität haben in der Ewe- und Mina-Wirklichkeit keinen Platz. Es geht darum, das in der Vergangenheit durch das Nutzen von Versklavten und das Handeln mit ihnen entstandene Unrecht zu tilgen.

Die Tchamba sind ein Volk im heutigen Zentral-Togo[11], sie und andere Völker im heutigen Zentral- und Nord-Togo wurden einst von den an der Küste lebenden Ewe und Mina als Versklavte genutzt. Wird der Kult Tchamba-Vodun genannt, so bedeutet das, dass er sich um Versklavte dreht – “Tchamba“ benennt alle Versklavten aus dem Norden. Oft wird Mami Tchamba auch der international sehr viel berühmteren Mami Wata zur Seite gestellt[12].

Miano fokussiert die Tchamba, die über den Atlantik verkauft und verschifft wurden. Doch wurden Versklavte – und nicht wenige – auch von den Ewe und Mina selbst verwendet. Misshandlung, Mord, das Fehlen einer richtigen Bestattung (insbesondere jenseits des Atlantiks) ließen die Geister der Verstorbenen nicht zur Ruhe kommen. Das kann auch heute noch zum Problem werden, kann insbesondere zu Krankheiten führen.

Es gilt, die Harmonie wiederherzustellen. “Diese wird erreicht durch eine Umkehrung der Figuren von Dominanten und Dominierten, denn der Tchamba-Vodun, der als Vodun der Versklavten dargestellt wird, hat sich als Dienende die Abkömmlinge der VersklaverInnen ausgesucht.“[13]

“Um es klar zu sagen: Es handelt sich um einen weiblichen Vodun, womit auf die Wichtigkeit der Frauen unter den Opfern der kolonialen Versklavung hingewiesen ist. Entgegen einer weitverbreiteten Vorstellung gab es manchmal eine stärkere Nachfrage nach Frauen als nach Männern, denn die Frauen waren vielseitiger einsetzbar. (…) Mami Tchamba ist also zuallererst ein Vodun (also die Gottheit oder das Wesen, um das sich der Kult dreht, GL), die sich der Geister von Frauen annimmt, die im Land der Deportation verstorben sind. Praktiziert werden Mami Tchamba-Riten von den Abkömmlingen der BesitzerInnen/LieferantInnen der Versklavten. Dieser rituelle Kontext, das Dispositiv, das er anbietet, und die Art und Weise, wie die Körper aufs Spiel gesetzt werden, erlaubt auch das Hervorbringen eines Sagens der Versklavung, das abweicht von dem der Institutionen, welches in Subsahara-Afrika wenig befriedigend ist. Innerhalb eines Raumes, der dem Symbolischen angehört, kann Platz gemacht werden für das Leiden und die Befriedung.“[14]

In unmittelbarer Folge schreibt Léonora Miano, was auch meinem heutigen Artikel als Schlusswort dienen soll: “Mami Tchamba erlaubt umzusetzen, was auf staatlicher Ebene nicht verwirklicht worden ist: sich an diejenigen zu erinnern, die weit weg von der Erde ihres Ursprungs ums Leben kamen, sie zurückzuholen in die Gemeinschaft, die ja aus Lebenden und Toten besteht. Diese verlorenen Seelen, deren Kummer der Gemeinschaft schaden könnte, werden befriedet. Indem man sich dieser tragischen Vergangenheit stellt, indem man anerkennt, wie sehr sie die Gegenwart prägt, öffnet man sich die Tore einer Zukunft, in der die Schatten keinen angestammten Platz mehr haben.“[15]


Vodun-Installation fürs Opfer, Hévé, Grand-Popo [16]

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Endnoten:

[1] Foto Ji-Elle 13.3.2017, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ouidah-Petit_temple_vaudou_sur_la_plage.jpg.

[2] Petra Radeschnig gilt – wie stets – mein herzlicher Dank fürs Lektorieren!

[3] NKR Sehgal, AR Sehgal, Slaveholder ancestry and current net worth of members of the United States Congress, veröffentlicht am 21.8.2024 in PLoS ONE 19(8): e0308351. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0308351. Die Studie habe ich nicht gelesen, aber es gibt eine Zusammenfassung durch die beiden Autoren selbst:
Neil K R Sehgal, Ashwini Sehgal, Many wealthy members of Congress are descendants of rich slaveholders − new study demonstrates the enduring legacy of slavery, The Conversation 23.10.2024, https://theconversation.com/many-wealthy-members-of-congress-are-descendants-of-rich-slaveholders-new-study-demonstrates-the-enduring-legacy-of-slavery-239077.

[4] Siehe dazu z.B. ORF, Commonwealth: Weitere Gespräche über Folgen der Sklaverei, ORF 26.10.2024 um 17h23.

[5] Nkechi Ogbonna, Slavery reparations not about transfer of cash, says Lammy, BBC 4.11.2024, https://www.bbc.com/news/articles/cvgkpy4634go.

[6] Victor Cariou, Commonwealth: la secrétaire générale Shirley Botchwey veut travailler sur les réparations de la traite d’esclaves, RFI 27.10.2024 um 3h32, https://www.rfi.fr/fr/afrique/20241027-commonwealth-la-secr%C3%A9taire-g%C3%A9n%C3%A9rale-shirley-botchwey-veut-travailler-sur-les-r%C3%A9parations-de-la-traite-d-esclaves.

[7] Foto Claude Truong-Ngoc 16.5.2014, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Mus%C3%A9e_Vodou_collection_Arbogast_Strasbourg_mai_2014-23.jpg.
In der Bildunterschrift wird die Statuette als “Wutuji bocio“-Statuette aus dem Vodou-Museum in Straßburg bezeichnet. “Wutuji bocio” bedeutet geschwollener Körper und bezeichnet Schwangere – in dieser Frontalansicht lässt sich nicht beurteilen, ob es sich um eine Schwangere handelt und ob somit die Bezeichnung richtig ist.

[8] Léonora Miano, Epilogue: Où se forge le future (de l’Atlantique subsaharien), pp.1087-1103 in Paulin Ismard (Hg.), Les mondes de l’esclavage. Une histoire comparée, Paris (Editions du Seuil) 2021, neue, um ein Kapitel erweiterte Auflage 2024. Merci Hanna!

[9] Der Schreibarten sind viele: Voodoo, Vodun, Vodou, Voudou, Vaudou, Wudu, Wodu…

[10] Léonora Miano, a.a.O., p.1093, Übersetzung GL.

[11] Da gibt es heute noch eine kleine Stadt und Präfektur namens Tchamba. Die Grenze zu Benin ist nicht weit.

[12] Siehe dazu auch Eric Montgomery’s fünfminütiges CultureRealm-Video “Ethnography of a Shrine: Tchamba” https://www.youtube.com/watch?v=Ue-qmr35RrY. Das Video liefert mehr Impressionen als eine wirkliche Einführung oder gar eine Ethnographie.

[13] Léonora Miano, a.a.O., p.1093, Übersetzung GL.

[14] Ebd., pp.1093f.

[15] Ebd., p.1094.

[16] Foto Kulttuurinavigaattori 12.1.2018, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Vodun_sacrifice_installation_in_Heve_village,_Benin.jpg.

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