Günther Lanier, Ouagadougou, 16.9.2020
Er war kein Pionier, kein Eroberer im engeren Sinn, war nicht an der vordersten Front. Doch war die koloniale Besetzung “Malis“ (damals Französischer Sudan) noch nicht vollendet, als Emile-Louis Abbat als Leutnant in der französischen Kolonialarmee diente. Vom Westen, von der senegalesischen Atlantikküste kommend, war das Land Schritt für Schritt erobert worden: Sabouciré südwestlich von Kayes[1] war am 22. September 1878 gefallen, Kita[2] 1881, Bamako am Niger – damals ein Dorf mit sechshundert EinwohnerInnen – 1883, das einst mächtige Ségou[3] 1890, Nioro[4] 1891, das berühmte und gelehrte Timbuktu 1894, Sikasso im Süden des heutigen Mali[5] 1898 und schließlich Gao[6], weit im Osten, von Bamako und Ségou und Timbuktu niger-abwärts, 1899.
Pariser Ziel war es, in Westafrika ein zusammenhängendes Territorium zu erobern und so sein Kolonialreich vom Mittelmeer – Algerien, Tunesien – bis zum Atlantik – Senegal, Côte d’Ivoire, Benin (damals: Dahomey) – auszudehnen[7]. Dieses Projekt sollte noch vor der Jahrhundertwende vollbracht sein[8].
Leutnant Emile-Louis Abbat war ein Rädchen im Militärapparat, dem die Eroberung und in der Frühzeit auch die Verwaltung des Kolonialreichs oblag. Er machte sich bei seinen beiden Einsätzen in Westafrika – 1894-96 und abermals 1897-98 – um die französischen Interessen verdient, wurde dekoriert und stieg in der Hierarchie der Armee in der Folge zum Hauptmann auf.
Frankreichs Posten in Ségou. Oben der Eingang, von innen gesehen, unten die Audienzhalle.
Die Briefe, die er im Laufe dieser vier Jahre nach Hause schrieb, sind erhalten und am Netz zugänglich. Sie geben Aufschluss über seinen Alltag und spiegeln wohl recht unverfälscht seine Reaktionen auf diese für ihn ganz neue Welt, seine Sorgen und seine Werturteile wider. Heute sind abermals französische Truppen im Sahel stationiert, insbesondere in Mali – die Operation Barkhane macht’s möglich.
Haus in Djenné
Moschee im Dorf Sama
Zweistöckiges Haus in Dia(ka), ganz aus Lehm
Haus des Griots Ahmadou in Ségou, ganz aus Lehm
Ein Vergleich zwischen Abbats Zeit französischer Besatzung und der “neokolonialen“ heutigen wäre sicherlich interessant[9]. Die Überheblichkeit, ja Verachtung, mit der den Einheimischen begegnet wurde, hat sich seither kaum geändert.
Haus des Kommandanten von Sokolo
Haus des Vize-Kommandanten von Sokolo, also Abbats Haus
Architektur der französischen Herrschaft in “Mali“ Stand 1896: der Posten in Bamako
Für meinen heutigen Artikel noch wichtiger sind jedoch die 450 Fotos, die Abbat in Westafrika Ende des 19. Jahrhunderts aufgenommen hat. 340 – darunter 250 von ihm selbst beschriftete – befinden sich im Besitz seiner Nachkommen. Kopien dieser Fotos wurden nicht nur dem Département-Archiv in seiner Heimatstadt Bourges[10] (Inventar-Nr. J1028) zur Verfügung gestellt, sondern sind ebenso wie seine Briefe nach Hause auch am Internet zugänglich und zwar unter: http://catherine.abbat.free.fr/FondsAbbatSoudanFrancais/ACCUEIL.html (Fotos unter http://catherine.abbat.free.fr/FondsAbbatSoudanFrancais/PHOTOSetDESSIN/PHOTOSetDESSIN.html).
Herzlichen Dank an Catherine Abbat, Emile-Louis’ Urenkelin, für die Erlaubnis, die Fotos für meine Artikel zu verwenden! Der heutige wird nicht der letzte sein – hier verwende ich Fotos, die er von seinem ersten Aufenthalt, als er im heutigen Mali diente, mitgebracht hat. Von 4. Juni 1894 bis 12. Februar 1895 war er da Vize-Kommandant des Kreises[11] Ségou, von 5. März 1895 bis 8. Jänner 1896 dann Vize-Kommandant und Kommandant des Kreises Sokolo, 150 km nördlich von Ségou.
Aus seinen Fotos mehr noch als aus seinen Briefen spricht ein genuines Interesse an seiner Umwelt, wobei er sein Objektiv auch, aber keineswegs nur auf seine eigene, militärisch-koloniale Welt richtet, sondern durchaus auch auf “Land und Leute“. Letztere werden beim Namen genannt, so ihm der bekannt ist – Frauen mit Namen sind freilich “die Frau von…“ (meist von einem ihm Untergebenen), die anderen bleiben anonym.
Sklavinnen liefern beim Posten von Ségou die Steuer in Naturalien (Hirse) ab
Einheimische zählen am Posten von Ségou Kauris, die zum Zahlen der Gehälter der Einheimischen verwendet werden, wobei jeweils 16 Häufchen von 5 Kauris aufgereiht werden… 2.000 Kauris = 40 französische Francs.
Hirsezubereitung per Mörser
Frauen am Niger-Ufer in Ségou
Am 16. September 1895, also vor genau 125 Jahren, war Emile-Louis Abbat Vizekommandant in Sokolo. Die Regenzeit machte ihm etwas zu schaffen, hatte er in seinem letzten Brief an die Familie berichtet.
“Regen und Sonne, Sonne und Regen, sonst haben wir seit Ende des vorigen Monats nichts gesehen hier.
Es ist ziemlich eintönig.“[12]
Leutnant Emile-Louis Abbat in Feldzugsuniform
Emile-Louis Abbat im Zelt, unterwegs
Freilich ist Abbat Soldat, seine Arbeit besteht zu allererst im Umgang mit Waffen und seine Briefe zeigen, dass er durchaus auch brutal sein kann, aber das will ich hier nicht fokussieren. Ein Stück weiter im selben Brief an seine Eltern schreibt der noch nicht ganz 28-Jährige:
“Gestern habe ich Melonen und Bohnen angepflanzt und wenn nichts aus ihnen wird, dann kann das nicht an meiner Umsicht liegen: Dünger, Komposterde, Lockern der Erde, Gießen, nichts fehlt. So bin ich guter Hoffnung. (…)
Derzeit gibt’s Radieschen, Salat und Gurken. Die Auberginen zeigen ihre ersten Triebe und der Kohl entwickelt seinen Strunk. Ich werde vom Garten einmal zwei oder drei Fotos machen und Sie werden sehen, was mit ein bisschen Mühe erreichbar ist.
Ist das Land auch nicht außergewöhnlich fruchtbar, so kann im Sudan (= heutiges Mali, GL) sehr gut angebaut werden. Ich meinerseits glaube, dass ausgezeichnete Resultate erzielbar wären, wenn hier unter der Leitung eines in Landwirtschaft Kundigen ein Schul-Bauernhof eingerichtet würde. Man müsste es probieren – und anders probieren als bisher, wo es meist völlig unerfahrene Offiziere sind, die beauftragt wurden, zu experimentieren. Dass sie trotz allen guten Willens versagen würden, war vorauszusehen.
Es gibt im Sudan zwei oder drei Missionsstationen der Weißen Väter Afrikas, die als triftiges Ziel die Errichtung von Modell-Farmen haben. Das sind außergewöhnlich gut ausgebildete Leute, die es verdienen, dass ihr Tun allseits gefördert wird.“
Einheimische Unteroffiziere in Sokolo
Die Weißen Väter (Missionare) von Ségou
Bootsleute (Somono) bei der Arbeit
Frauen am Brunnen
Abbat zerbricht sich also den Kopf, will das ihm unterworfene Land entwickeln – dieser Ausdruck wurde erst später gang und gäbe, damals wurde von “In-Wert-Setzen“ gesprochen. Der “Zivilisierungsauftrag“, den sich Europa erfunden hat, um sich die Welt untertan zu machen, wirkt auch bei Soldaten.
Abbat steht mit seinem – fotografischen und sonstigen – Interesse für Afrika nicht alleine da. Es ist in dieser frühen Zeit der Besatzung immer wieder überraschend, wie sehr, wie tief sich Soldaten mit ihrer Umgebung auseinandersetzen, mancher unter ihnen wird Ethnologe, Experte für Kultur, Sprache, das Land, wo er Frankreich dient oder gedient hat[13].
Um sich abzulenken und um die Fadesse des Regenzeit-Alltags zu durchbrechen, begibt sich Abbat dann auf eine Dienstreise: Er begleitet einen Kollegen, der eine Zeit lang in Sokolo verbracht hat, um sich von einer Krankheit zu erholen, an seinen Dienstort in Goumbou, 140 km westlich von Sokolo.
“Wir haben eine acht-tägige Reise hinter uns, anstrengend, weil die Etappen lange waren.
Zu allem Überdruss war der Busch voller Zecken oder Schafsläusen und diese gemeinen Biester krochen überall hin. Unsere Pferde waren voll mit ihnen und uns selbst ist das auch nicht erspart geblieben.
Trotz dieser Uannehmlichkeit hat mir die Reise großes Vergnügen bereitet. Ich habe neues Land gesehen, reich und gut bewirtschaftet. Leider ist das Wasser rar, wie hier überall in der Gegend, sodass die Dörfer weit von einander entfernt liegen.
Goumbou ist wie alle schwarzen Dörfer, weder sauberer noch besser instand.“
Baobab in der Trockenzeit
Wertschätzung und Abwertung wechseln einander in unmittelbarer Abfolge ab, bestehen Seite an Seite. Ich bin mir sicher, dass die Erzählung der Barkhane-SoldatInnen heute nicht viel anders klingen. Auch Expats und unter ihnen gar nicht so wenige MitarbeiterInnen aus der Entwicklungszusammenarbeit leiden ja unter beträchtlicher Überheblichkeit. Das ist wohl dem erwähnten Zivilisierungsauftrag geschuldet, der hat sich auch im “globalen Dorf“ nicht in Luft aufgelöst.
Endnoten:
[1] Heute die wichtigste Stadt in West-Mali, liegt am Fluss Senegal. Sabouciré liegt 27 km südwestlich von Kayes. Mit der dort stattgefundenen Schlacht fiel das Königreich Logo, das dem französischen Vordringen Widerstand geleistet hatte.
[2] 160 km westlich von Bamako.
[3] Zum vorkolonialen Ségou siehe die zwei Bände von Maryse Condé: Ségou. Les murailles de terre, Paris (Robert Laffont/Pocket) 1984 sowie Ségou. La terre en miettes, Paris (Robert Laffont/Pocket) 1985.
Das dem Artikel vorangestellte Foto Emile-Louis Abbats zeigt Fischer (Somono) auf dem Niger in Ségou. Alle Fotos des heutigen Artikels entstammen – manchmal leicht überarbeitet – http://catherine.abbat.free.fr/FondsAbbatSoudanFrancais/PHOTOSetDESSIN/Pages/6CarnetsSejour1.html.
[4] 350 km nordnordwestlich von Bamako, nahe der heutigen mauretanischen Grenze.
[5] 250 km südlich von Ségou, nahe der heutigen burkinischen und auch nicht weit von der ivorischen Grenze.
[6] 150 km nördlich des Dreiländerecks Mali-Burkina Faso-Niger.
[7] Eine wichtige Rolle – als Vorläufer und Initiator – spielte hier der General und senegalesische Gouverneur Faidherbe in den 1850er und 1860er Jahren. Dass in den 1880er und 1890er Jahren dann ernst gemacht wurde mit der Eroberung, hat freilich viel mit der Berliner Konferenz 1884/85 zu tun, bei der sich die europäischen Mächte Afrika aufteilten und die den endgültigen “scramble for Africa“, den Wettlauf um Afrika, auslöste.
[8] Hingegen misslang der Versuch, die afrikanischen Besitzungen auch in West-Ost-Richtung bis nach Dschibuti für Frankreich zu einem zusammenhängenden Territorium zu vereinen – da behielt Großbritannien im heutigen Sudan in der sogenannten Faschoda-Krise 1898 die Oberhand.
[9] Für ein solches Unterfangen fehlt mir der Zugang zu den/das Verständnis für die französischen SoldatInnen, die heutzutage im Sahel ihrer “Arbeit“ nachgehen.
[10] 200 km südlich von Paris.
[11] Die wörtliche Übersetzung von “cercle“, ein in Mali noch verwendeter Begriff, entspricht in etwa einer “Provinz“ (unterhalb von Region und oberhalb von Gemeinde).
[12] Brief vom 8.9.1895 aus Sokolo an die Eltern, http://catherine.abbat.free.fr/FondsAbbatSoudanFrancais/LETTRES1/Entr%C3%A9es/1895/9/8_Lettre_40.html.
[13] Zu diesen gehört Abbat nicht. Er hat sich für Afrika gemeldet, um in der Armee schneller Karriere zu machen. Er kam aber doch nicht von Afrika los. 1912-14 dient er in Tunesien. Im Ersten Weltkrieg stirbt er am 14.9.1916 in der Somme-Schlacht (Somme ist ein Département in Nord-Frankreich), da ist er Oberstleutnant des 1. Marschbataillons der leichten afrikanischen Infanterie. Posthum wird er zum Offizier der Ehrenlegion ernannt.