Kinshasa 19. oder 20. Dezember 2016 – um so offensichtliche Straßensperren geht es in dem Artikel freilich nicht [1]
* * *
Autoren: Raúl Sanchez de la Sierra, Albert Malukisa Nuku, Haoyang (Stan) Xie, Kristof Titeca
Einleitung und Übersetzung Günther Lanier
Ouagadougou 12. Februar 2025[2]
* * *
In Städten hat die Polizei den Auftrag, Verkehr zu verflüssigen. Doch zumindest in Kinshasa ist ihre tatsächliche Rolle eine andere, ja gegenteilige. Zu diesem Thema ist am 3. Februar auf The Conversation ein Artikel erschienen, der eine rezente Studie zusammenfasst, deren Ergebnisse verblüffend sind.
Raúl Sanchez de la Sierra hat mir das Übersetzen ins Deutsche und das Veröffentlichen dieses Artikels erlaubt. Ihm und seinen Co-Autoren herzlichen Dank! Von mir ist nur die kurze Einleitung und eben die Übersetzung.
Raúl Sanchez de la Sierra ist Assistent an der Harris School of Public Policy der Universität Chicago[3]. Er forscht insbesondere zu politischer Ökonomie, Entwicklungsökonomie, Kultur & Wirtschaft und zu Gewaltmotivation. Seine Feldforschungen konzentrieren sich auf Kongo-Kinshasa, wo er einer der Gründer von Marakuja Kivu Research war.
Albert Malukisa Nuku ist Professor an der Politologie der Katholischen Universität Kongos und ist als Forscher dem Entwicklungspolitik-Institut der Universität von Antwerpen angegliedert. Er forscht vor allem zur Governance öffentlicher Institutionen in Kongo-Kinshasa, zu Governance von Städten und zur informellen Ökonomie[4].
Haoyang (Stan) Xies Forschungen fokussieren Entwicklungsökonomie und politische Ökonomie und dabei insbesondere staatliche Kapazitäten, Auslandsinvestitionen und Nachhaltigkeit in Afrika. Derzeit arbeitet er am Kenneth C. Griffin Department of Economics an der Universität Chicago an seiner Dissertation[5].
Kristof Titeca ist Professor für internationale Entwicklung am Institut für Entwicklungspolitik der Universität von Antwerpen. Besonders interessieren ihn Governance und Konflikte in Gebieten, wo der Staat wenig präsent ist, insbesondere im zentralen und östlichen Afrika[6].
* * *
Kinshasas Verkehrspolizei betreibt ein Erpressungssystem, das fünf Mal so viel Einnahmen generiert wie ihre Strafmandate
Autoren: Raúl Sanchez de la Sierra, Albert Malukisa Nuku, Haoyang (Stan) Xie, Kristof Titeca
Im Original erschienen auf The Conversation am 3.2.2025 um 3h48 südafrikanische Standardzeit
Stau in Kinshasa [7]
Die Fahrt zur Arbeit ist für die 17 Millionen BewohnerInnen[8] Kinshasas, Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo, eine Herausforderung. Massive Staus und unsicheres Fahrverhalten verursachen Chaos auf den Straßen[9] und bringen massiven Zeitverlust.
Dieses Chaos ist für die Bevölkerung zu einer großen Sorge geworden[10]. Die Fahrt aus umliegenden Bezirken nach Gombe, Kinshasas zentralem Geschäftsviertel, kann bis zu fünf Stunden erfordern.
Beim Amtsantritt im Jänner 2019 versprach Präsident Felix Tshisekedi, Kinshasas Verkehrswege zu verbessern und so gegen das Verkehrschaos anzukämpfen. Ein Autobahnkreuz und eine Überführung wurden gebaut[11] und mehrere Straßen wurden zu Einbahnen[12]. Doch die Wirkung ist gering. Kinshasas Verkehrsproblem besteht nach wie vor.
Generell wird der schlechten Infrastruktur die Schuld für die Staus gegeben, doch es gibt auch weniger sichtbare Gründe. Als Sozialwissenschaftler haben wir uns daran gemacht, die institutionellen Faktoren zu erforschen, die den Verkehrsinfarkt verursachen könnten.
In einer rezenten Studie[13] haben wir ein illegales einkommensschaffendes System der Verkehrspolizei untersucht, das auf der Zusammenarbeit von VerkehrspolizistInnen, ihren ManagerInnen und JustizbeamtInnen gründet. Wir haben analysiert, welche Rolle dieses System für die Verkehrsverhältnisse der Stadt spielt.
Bei dem als Quotensystem bekannten Verfahren teilen die DienststellenmanagerInnen (KommandantInnen) StraßenpolizistInnen eine tägliche Quote an FahrerInnen zu, die sie aufs Kommissariat zu begleiten haben, oft auf Grundlage erfundener Anschuldigungen.
Unsere Forschungsergebnisse und Analysen[14] geben Einblick, wie das Quotensystem Verkehrsstaus und Unfälle verursacht und den Verkehrsregelungsauftrag der Polizei untergräbt. Zudem legen wir dar, wie Korruption als koordiniertes System statt als isolierte Akte individuellen Fehlverhaltens funktioniert.
Das Problem
Wie viele andere Verkehrspolizeibehörden weltweit hat die Verkehrspolizei Kinshasas die Aufgabe, wichtige Kreuzungen zu managen und die Straßenverkehrsordnung durchzusetzen.
Wie viele andere BeamtInnen der Demokratischen Republik Kongo[15] verdienen auch PolizistInnen wenig – circa 70 USD im Monat. Anekdotische Evidenz deutet darauf hin, dass der Polizei Mittel für elementare Notwendigkeiten wie Benzin und Kommunikation fehlen. Mangel an Ressourcen hat dazu beigetragen, dass sich PolizistInnen von FahrerInnen Mittel beschaffen, teils, um sich selbst zu bereichern, und teils, um die Polizeiarbeit zu finanzieren[16].
Das geschieht maßgeblich im Rahmen eines spezifischen Schemas[17], das VerkehrspolizistInnen betrifft. Wir haben herausgefunden, dass DienststellenmanagerInnen verschiedenen StraßenpolizistInnen tägliche Quoten zuteilen an FahrerInnen, die sie aufs Kommissariat zu begleiten haben.
Um die Quote zu erfüllen, wenden PolizistInnen oft rohe Gewalt an. Auch steht ihnen frei, Regelübertretungen zu erfinden, die sie dann am Kommissariat melden. Wobei der schlechte Zustand der meisten Autos in Kinshasa den PolizistInnen bei ihrer Aufgabe hilft.
Am Kommissariat melden die StraßenpolizistInnen ihre Anschuldigungen den JustizbeamtInnen, welche Befugnis haben, Anklage zu erheben – oder sie verlangen Geld, wodurch die FahrerInnen formelle Strafen vermeiden. Viele VerkehrsteilnehmerInnen versuchen, dieser Erpressung durch Beziehungspflege zu einflussreichen BeschützerInnen zu entkommen. Das sind Leute, die im Interesse von FahrerInnen intervenieren können, oft PolitikerInnen oder hohe SicherheitsbeamtInnen.
Unsere Forschung
Nach drei Jahren quantitativer Feldforschung genossen wir bei einer großen Zahl von Individuen in der und rund um die Verkehrspolizei Vertrauen. Das hat es uns 2015 ermöglicht, Datensammelsysteme zu entwerfen, um Praktiken der Verkehrspolizei zu untersuchen.
Wir stützten uns auf die Zusammenarbeit mit 160 Individuen und erhielten die folgenden Informationen:
– direkte Beobachtung von 13.000 Interaktionen zwischen PolizistInnen und FahrerInnen an Kreuzungen
– Kommissariatsakten zu 1.255 eskortierten Fahrzeugen inkl. Bestechungsgeldverhandlungen und Ergebnissen
– Verkehrsfluss- und Unfall-Daten von 6.399 Stunden Beobachtung.
Um die Kosten dieses Systems für den öffentlichen Dienst zu quantifizieren, führten wir ein Experiment durch: Wir arbeiteten mit PolizeikommandantInnen zusammen, um die täglichen Quoten für manche Teams an manchen Tagen zu reduzieren.
Wir überzeugten die KommandantInnen, die Quoten ihrer Teams vorübergehend um die Hälfte zu kürzen. Zu erwarten war, dass das Reduzieren der Quoten die an PolizistInnen herangetragenen Bestechungsversuche und somit Korruption insgesamt verringern würde. Außerdem würden sich die PolizistInnen auf das Regeln des Verkehrs konzentrieren können – was unsere Ergebnisse später bestätigten[18].
Damit diese Herangehensweise funktionierte, entschädigten wir die KommandantInnen für ihren durch das Senken der Quoten erlittenen Einkommensverlust, welcher vor dem Umsetzen der Maßnahme sorgfältig berechnet wurde. Diese Entschädigungen ähnelten in vielem traditionellen Anti-Korruptionsmaßnahmen weltweit, nur dass sie nicht auf die StraßenpolizistInnen, sondern auf die KommandantInnen abzielten.
Was wir herausgefunden haben
- Das Quotensystem generiert beträchtliche gesetzeswidrige Einnahmen. Die tatsächlichen Einnahmen der Verkehrspolizei sind fünfmal so groß[19] wie ihre Einnahmen aus Strafmandaten. Wir haben ermittelt, dass 68% der durch das Quotensystem erzeugten illegalen Einnahmen aus Bestechungsgeldern stammten, die FahrerInnen zahlen, nachdem sie aufs Kommissariat eskortiert werden. Die restlichen illegalen Einnahmen kamen aus Bestechungsgeldern, die auf den Straßen außerhalb des Quotensystems gezahlt werden.
- Die erzielten Einnahmen sind Resultat von Erpressungen in den Kommissariaten. JustizbeamtInnen haben die Macht, zu drohen, willkürlich Anklage zu erheben. Wir haben ermittelt, dass 82% der Anschuldigungen für unabhängige Dritte unüberprüfbar sind. Darüber hinaus korreliert der am Kommissariat erzielte Betrag stark mit der Fähigkeit der FahrerInnen, mächtige “BeschützerInnen“ anzurufen.
- Die Erpressungen auf den Kommissariaten beruhen auf der Befugnis der StraßenpolizistInnen, FahrerInnen willkürlich aufs Kommissariat zu eskortieren. Waren FahrerInnen nicht bei Regelverletzungen beobachtet worden, war das Anwenden roher Gewalt wahrscheinlicher.
Insgesamt bedeutet das, dass das System auf einer Koalition zwischen KommandantInnen, StraßenpolizistInnen und JustizbeamtInnen beruht.
Bei der Reduktion der Quoten hat das System auch einen Teil seiner sozialen Kosten geoffenbart. Dabei gab es zwei signifikante Ergebnisse.
Ärgerer Verkehr: Das Quotensystem war schuld an einem erheblichen Teil der Staus und Unfälle an Kreuzungen, wo die PolizistInnen tätig sind. Teils aufgrund ihrer selbst hervorgerufenen Abwesenheit und teils aufgrund ihres Verhaltens verursachten PolizeibeamtInnen zahlreiche Verkehrsstaus und Unfälle. Ohne genau überprüfbare Angaben machen zu können, schätzen wir[20], dass 40% der Staus an den wichtigsten Kreuzungen der Stadt dem Quotensystem geschuldet sind.
Verminderter Anreiz, sich gesetzestreu zu verhalten: Das Quotensystem macht es weniger wahrscheinlich, dass FahrerInnen sich an die Gesetze halten. Sie können aufs Kommissariat begleitet werden, egal, ob sie sich an die Straßenverkehrsordnung halten oder nicht.
Warum diese Resultate wichtig sind
Unsere Studie[21] liefert seltene und detaillierte Belege, wie Korruption funktioniert. Für die Politik hat sie drei Konsequenzen.
- Es gilt, auf die Vorgesetzten der BeamtInnen zu zielen, nicht auf die BeamtInnen selbst. Sichtbare Korruption ist nur die Spitze des Eisbergs, sie hängt ab von Machtverhältnissen und Koalitionen im Inneren des Staates.
- Die Befugnis der JustizbeamtInnen, Anklage zu erheben, und die der PolizistInnen, FahrerInnen aufs Kommissariat zu eskortieren, gehören beschränkt.
- Anreize zu “guter“ Korruption sollten geschaffen werden. BeamtInnen auf Kommissariaten zu animieren, einen erheblichen Teil der Strafen für wirkliche Vergehen zu kassieren, würde PolizistInnen veranlassen, FahrerInnen zu eskortieren, die tatsächlich Verkehrsregeln missachtet haben. Dabei muss allerdings sorgfältig auf ein Gleichgewicht zwischen Flüssigkeit des Verkehrs, Sicherheit und Gesetzestreue geachtet werden, da ansonsten an Strafmandate gebundene Quoten Verkehrsstaus verschlimmern könnten.
* * *
Endnoten:
[1] Foto Monusco, zugeschnitten GL, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Streets_of_Kinshasa_during_crisis_on_19_and_20_December,_2016_DSC_3655_(31728467686).jpg.
[2] Petra Radeschnig gilt – wie stets – mein herzlicher Dank fürs Lektorieren!
[3] Siehe https://theconversation.com/profiles/raul-sanchez-de-la-sierra-2292012 und etwas ausführlicher https://raulsanchezdelasierra.com/.
[4] Siehe https://theconversation.com/profiles/albert-malukisa-nkuku-428346.
[5] Siehe https://theconversation.com/profiles/haoyang-stan-xie-2294430.
[6] Siehe https://theconversation.com/profiles/kristof-titeca-414102 und https://kristoftiteca.be/.
[7] Die Rechte für das Foto des Originalartikels habe ich nicht, GL. Foto Monusco 22.9.2014 um 17h15, zugeschnitten GL, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ici_un_embouteillage_%C3%A0_Kinshasa_(15135583779).jpg.
[8] Siehe https://www.trade.gov/country-commercial-guides/democratic-republic-congo-market-overview.
[9] S. https://www.france24.com/en/live-news/20240705-kinshasa-a-megacity-of-traffic-jams-potholes-transit-chaos.
[10] S. https://www.france24.com/en/20190619-kinshasa-commuting-hell-dr-congos-capital.
[11] S. https://www.africanews.com/2021/01/01/relief-for-motorists-as-congolese-president-inaugurates-interchange-project/.
[12] S. https://actualite.cd/2025/01/08/mesures-de-circulation-alternee-sens-unique-kinshasa-une-enquete-menee-par-le-mncl.
[13] Raúl Sánchez de la Sierra, Kristof Titeca, Haoyang (Stan) Xie, Aimable Amani Lameke, Albert Malukisa Nkuku, The Real State: Inside the Congo’s Traffic Police Agency, American Economic Review Nr.114, Dez.2024, pp.3976-4014, https://www.aeaweb.org/articles?id=10.1257/aer.20220908.
[14] Siehe ebd.
[15] S. https://www.bloomsbury.com/uk/negotiating-public-services-in-the-congo-9781786994004/.
[16] S. https://journals.openedition.org/ried/1789.
[17] S. https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/19392206.2011.628629.
[18] S. https://www.aeaweb.org/articles?id=10.1257/aer.20220908.
[19] S. ebd.
[20] S. ebd.
[21] Siehe ebd.