Foto: Borana-Mädchen in Südäthiopien [1]
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Günther Lanier, Ouagadougou 19.4.2023[2]
Teenagerinnen und die Ausweitung kommunaler Gesundheitsdienste: ein äthiopisches Vorzeigemodell
Es bleibt viel zu tun, was den Gender Gap bei äthiopischen TeenagerInnen betrifft, also die Ungleichheit zwischen Jugendlichen weiblichen und männlichen Geschlechts.
Doch hat das seit 2003 betriebene Health Extension Programme (HEP/Gesundheitsausweitungsprogramm, wobei es bei der Ausweitung um Gesundheitsdienste an der Basis geht) einen wesentlichen Beitrag zur Reduzierung der Ungleichheiten geleistet. Und das, obwohl es, wie der Name sagt, um Gesundheit und nicht um Gender geht[3].
Nun hat eine Gruppe von WissenschaftlerInnen die Auswirkungen dieses Programms auf Jugendliche untersucht[4]. TeenagerInnen, wird in der Studie einleitend festgestellt, werden in staatlichen Gesundheitsprogrammen tendenziell vernachlässigt, was sexuelle und reproduktive Gesundheit betrifft, stehen Gebärende, Mütter und Kleinkinder im Fokus. Diese Vernachlässigung ist für weibliche Jugendliche insofern schlimmer als für männliche, als sie in höherem Ausmaß geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt sind, sexuellem Zwang, Kinderheirat (unter 18), Exzision (Female Genital Cutting, dem Zurechtschneiden des weiblichen Geschlechts[5]).
Zwischen 2003 und 2010 kam es im Rahmen des Programms, dem es wie gesagt in erster Linie um Gesundheit an der Basis geht, landesweit zu einer beträchtlichen Mobilisierung von Humanressourcen: an kommunalem Gesundheitspersonal (Health Extension Workers) kamen 34.000 zum Einsatz, eineR pro 2.400 ÄthiopierInnen[6]. Dazu wurden um die 6.000 kommunale Gesundheitsstationen eingerichtet. Nach einer einjährigen Ausbildung haben die in den jeweiligen Gemeinschaften rekrutierten, überwiegend weiblichen[7] 34.000 den Auftrag, höchstens ein Viertel ihrer Zeit in der Gesundheitsstation zu arbeiten, und die restlichen drei Viertel outreach-Aktivitäten, insbesondere Hausbesuchen, zu widmen, die Leute bei ihnen daheim in gesundheitlichen Belangen zu beraten. Dabei stehen also die Familien im Fokus.
bei einer Hochzeitsfeier im Amora Gedel-Park, Awassa [8]
Die Studie untersuchte nun die Auswirkung des äthiopischen Gesundheitsausweitungsprogramm auf 775 TeenagerInnen (beide Geschlechter, obwohl sie sich vor allem für die Mädchen interessierte). Für diese 775 lagen Daten aus 2002, 2006, 2009 und 2013 vor. 2002 waren die Kinder zwischen 7,5 und 8,5 Jahren alt, 2013 dann zwischen 18,5 und 19,5.
Untersucht wurde die Korrelation zwischen 12 Indikatoren, die für die Gesundheit und das Wohlbefinden der Jugendlichen stehen[9], und der Beteiligung oder Nichtbeteiligung der Betroffenen am Programm.
Die Ergebnisse wurden getrennt nach Geschlecht ausgewiesen. Hier eine zusammenfassende Grafik der wichtigsten Resultate für die Buben/männlichen Jugendlichen:
Für am Programm beteiligte männliche Jugendliche verbesserte sich gegenüber nicht beteiligten die Einschulungsrate von 42 auf 62%, der Prozentsatz der Alphabetisierten von 51 auf 57% und die Zeit, und der Anteil derer, die mehr als vier Stunden täglich für einkommensschaffende Maßnahmen verwenden mussten, verringerte sich von 63 auf 44%.
Und hier die wichtigsten Ergebnisse für weibliche Jugendliche:
Für am Programm beteiligte weibliche Jugendliche verbesserte sich gegenüber unbeteiligten die Einschulungsrate von 41 auf 67%, die Alphabetisierungsrate von 51 auf 56%, der Prozentsatz derer, die rechnen konnten von 37 auf 45%, die Rate der Mädchen, die nicht als Kinder verheiratet wurden, erhöhte sich von 78 auf 93% und der Prozentsatz derer, die keine zu frühe Schwangerschaft erlebten, stieg von 78 auf 95%.
Das sind überaus signifikante und sehr erfreuliche Ergebnisse, überraschend angesichts der Tatsache, dass das Programm anderes fokussierte, nämlich Gesundheit. Es ist ein Hinweis auf die Bedeutung von Aufklärung und Sensibilisierung im familiären, meist von Frauen dominierten Bereich, wobei die Gemeinschaftszugehörigkeit des Basisgesundheitspersonals und sein überwiegend weibliches Geschlecht zweifellos erfolgsfördernde Faktoren waren.
Muslimin und Christin, Addis Abeba [12]
So erfreulich die Ergebnisse der Studie sind, zeigte sie aber auch Mängel auf. So wurden kaum Auswirkungen des Gesundheitsausweitungsprogramms auf das Wissen der Teenagerinnen über Fruchtbarkeit festgestellt und überhaupt keine Verbesserung des Wissens über sexuell übertragbare Infektionen. Andere Studien hatten schon den Mangel an Auswirkungen des Programms auf Wissen über und Verwendung von Verhütungsmitteln zu Tage gebracht. Bei den Hausbesuchen wird sexueller und reproduktiver Gesundheit zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, ganz zu schweigen von den damit verbundenen Rechten der Mädchen und Frauen[13].
Hier gilt es also nachzubessern.
Hoffen wir, dass sich Tigray-Krieg und andere gewaltsame Auseinandersetzungen auf das äthiopische Health Extension Programme nicht allzu negativ ausgewirkt haben. Wir wissen ja, dass Krisen Zeiten verschärfter Gewalt gegen Frauen sind und dass dann zum Beispiel auch Kinderheirat vermehrt praktiziert wird.
barfuß läuft sich’s schneller: Every One Race (zum Schaffen von mehr Bewusstsein bezüglich Mutter-Kind-Gesundheit) [14]
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Endnoten:
[1] Die Borana – auch Boran oder Borena – leben ganz überwiegend im Süden des Landes, einige auch in Kenia und Somalia. Sie gehören zu den Oromo. Foto Rod Waddington 1.8.2019, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Borana_Girls_(50337213077).jpg?uselang=de.
[2] Petra Radeschnig gilt – wie stets – mein herzlicher Dank fürs Lektorieren!
[3] Eine generelle Einschätzung des Health Extension-Programms wurde z.B. 2019 von Yibeltal Assefa, Yalemzewod Assefa Gelaw et al. unternommen – siehe ihr “Community health extension program of Ethiopia, 2003-2018: successes and challenges toward universal coverage for primary healthcare services“, Global Health Bd.15 Nr.24, https://globalizationandhealth.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12992-019-0470-1.
[4] Siehe Silinganisiwe Dzumbunu, William Rudgard, et al., Multiple Impacts of Ethiopia’s Health Extension Program on Adolescent Health and Well-Being: A Quasi-Experimental Study, Journal of Adolescent Health Bd.71 Nr.3, September 2022, pp.308-316, https://doi.org/10.1016/j.jadohealth.2022.04.010. Auf die Studie gekommen bin ich durch einen The Conversation-Artikel: Silinganisiwe Dzumbunu, William Rudgard, Community health workers in Ethiopia set out to promote health – in the process they’ve empowered girls in other ways too, The Conversation 12.4.2023, https://theconversation.com/community-health-workers-in-ethiopia-set-out-to-promote-health-in-the-process-theyve-empowered-girls-in-other-ways-too-194385.
[5] Dieses passiert mehrheitlich allerdings im Kindesalter.
[6] Es sind zwei pro kebele, der niedrigsten Verwaltungseinheit, die durchschnittlich 33 km2 misst und 3-5.000 EinwohnerInnen hat.
[7] Frauen ist der Zugang in den intimen familiären Bereich und das Ansprechen von Mutter-Kind-Gesundheit leichter möglich. Neben der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft und der Kenntnis der dort gesprochenen Sprache sind ein Mindestalter von 17 und der erfolgreiche Abschluss von Sekundärbildung (10 Jahre Schule) Voraussetzung.
[8] Awassa liegt ca. 200 km südlich von Addis. Foto David Stanley 20.10.2013, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ethiopian_Wedding_Party_(11470779734).jpg?uselang=de.
[9] Siehe p.310 der Studie für Details zu den 12 verwendeten Indikatoren.
[10] Siehe Studie p.314.
[11] Siehe abermals Studie p.314. Die beiden Grafiken habe ich getrennt, in der Studie gehören sie zusammen.
[12] Foto Adam Jones, 16.5.2013, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Muslim_and_Christian_Girl_outside_National_Museum_of_Ethiopia_-_Addis_Ababa_-_Ethiopia_(8744257382).jpg?uselang=de.
[13] Die Studie verweist auf: Äthiopisches Gesundheitsministerium, Evaluation of Health Extension Program – rural Ethiopia, Addis Abeba (Ministry of Health) 2010 sowie auf A. Admassie, D. Abebaw, A.D. Woldemichael, Impact evaluation of the Ethiopian health services extension programme, Journal of Development Effectiveness 2009 Bd.1 Nr.4, pp.430-449, https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/19439340903375724.
[14] Foto Thomas Staal/USAID 2.6.2011, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Runners_at_the_EVERY_ONE_race_(5791174506).jpg?uselang=de.