Radio Afrika TV

Staatliche Versklavte

Share on facebook
Share on twitter
Share on linkedin
Share on whatsapp
Share on email
Share on print

Foto: Ex-Versklavte in der Nähe von Guelb er Richât, auch Auge der Sahara oder Auge Afrikas genannt, Nord-Mauretanien [1]

* * *

Günther Lanier, Ouagadougou 16. Oktober 2024[2]

* * *

Versklavtsein bedeutet ein Maximum von Unfreiheit. Es bedeutet, völlig dem Willen eines anderen oder einer anderen unterworfen zu sein, bedeutete oft, (ver)kaufbar zu sein, (ver)mietbar und (ver)erbbar zu sein – Ware zu sein. Versklavte befinden oder befanden sich oft im Zustand des sozialen Todes, sind oder waren herkunfts- und verwandtschaftslos.

Definition und Abgrenzung sind schwierig, es gibt auch viele verschiedene Arten – nicht nur die unsere Vorstellungen dominierende, aus der Verschiffung von Millionen AfrikanerInnen auf die Westseite des Atlantiks hervorgegangene und insbesondere auf (Zucker)Plantagen praktizierte Version, wobei diese wohl einen Höhepunkt an Brutalität und Unmenschlichkeit dargestellt hat. Wobei es anzumerken gilt, dass sie eines der Fundamente des frühen Stadiums des globalen Kapitalismus war[3].

Schon die Terminologie macht Probleme: “Sklave“ und “Sklavin“ gelten heute vielfach nicht mehr als akzeptabel, aus diesen Wörtern sei das Menschsein getilgt, ihnen sei zutiefst das Ware-Sein eingeschrieben.

Verschiedene Formen der Versklavung gibt es auch heute noch – in der Sex-Industrie handeln zum Beispiel viele unter Zwang; oder die Lord’s Resistance Army oder andere Bewaffnete halten Frauen und Mädchen gefangen, um sich ihrer bedienen zu können; DiplomatInnen im Herzen europäischer Großstädte konfiszieren die Ausweise ihrer aus fernen Ländern importierten Dienstbotinnen, um sie umfassender ausbeuten zu können; und so weiter.

Ist vom Fortbestehen historischer Formen von Versklavtsein die Rede, so wird gerne Mauretanien angeführt – deswegen auch das dem Artikel vorangestellte Foto (obwohl es nichts mit staatlichen Versklavten zu tun hat). Von offizieller Seite heißt es in Nouakchott zwar, dass alle frei sind und Sklaverei verboten ist und schließlich auch unter Strafe stehe, doch eingesperrt werden nicht diejenigen, die dieses Verbot missachten, sondern diejenigen, die sich gegen den Fortbestand der Sklaverei einsetzen – wie es zum Beispiel Biram Ould Dah Ould Abeid geschah, der bei den Präsidentschaftswahlen 2019 und abermals 2024 den zweiten Platz belegte[4].


zu spät geboren: in früheren Jahrhunderten hätten diese drei Naabas von Yatenga den Staat verkörpert [5]

Wie erwähnt, gibt es weltweit eine Vielzahl unterschiedlicher Formen von Versklavtsein. Ich lese gerade an einem umfangreichen Buch, das dieser Vielfalt Rechnung trägt. “Die Welten der Versklavung. Geschichte im Vergleich“ hieße es vielleicht auf Deutsch[6]. Diese hochinteressante Lektüre ist insgesamt ein deprimierendes Unterfangen, wird doch offensichtlich, wie ubiquitär diese (Un)Form des zwischenmenschlichen Umgangs war und immer noch ist[7]. Doch in der Vielfalt versteckt sich Überraschendes: Ein Kapitel der fast 1.200 Seiten widmet sich staatlichen Versklavten. Daraus bringe ich in aller Kürze die afrikanischen Beispiele[8].

In Yatenga, in der Nord-Region des heutigen Burkina Faso, machten die bingdemba, die Versklavten des Königs (naaba) vom 16. bis zum 19. Jahrhundert ungefähr ein Zehntel der Bevölkerung aus. Ihnen oblag vieles, was für das Funktionieren des Königreichs unabdingbar war, insbesondere waren sie für die royalen Reliquien verantwortlich, für das Eintreiben der Steuern auf Handelsware und sie übten Polizeifunktionen aus. Sie konnten nicht verkauft werden, durften heiraten und Land bestellen. Obwohl sie zweifellos teilhatten an der Macht: Ihre Erbeutung hatte ihnen jegliche Herkunft und verwandtschaftliche Bindung geraubt; sozial waren sie tot.


reiche Beute: Kriegsgefangene des Moogo naaba Boukary Koutou [9]

Berühmter als die bingdemba waren die ägyptischen Mameluken. Von den Abassiden-Kalifen Bagdads im 9. Jahrhundert “erfunden“, handelte es sich um versklavte Jugendliche aus der nördlichen Fremde, “Türken“, die für den Militärdienst ausgebildet wurden. Diese vom Sultan “in Besitz genommenen“ (das ist die Bedeutung von “Mameluk“ im Arabischen) Jugendlichen, so das Kalkül, hatten niemanden außer dem Sultan, dem sie verbunden oder verpflichtet waren, waren somit völlig von ihm abhängig und ihm ergeben. Anders als auf seine anderen Untergebenen und auch Verwandten, konnte er sich auf sie somit verlassen. So wurden diesen Mameluken die Sicherheit im Staat (somit die des Sultans) und ein guter Teil seiner Verwaltung anvertraut. Das “mamelukische Paradigma“ kam in einem riesigen Gebiet zur Anwendung, vom samanidischen Iran des 10. Jahrhunderts bis ins ottomanische Marokko des 19. Jahrhunderts.


das mamelukische Sultanat in Cresques Abrahams katalonischem Atlas, circa 1375 [10]

In Ägypten übernahm die mamelukische Militärkaste schließlich selbst die Macht. Sie herrschte dort von 1250 bis 1570. In dieser Mameluken-“Dynastie“ wurde Macht nicht vererbt (die paar Versuche, es doch zu tun, dauerten meist nicht)[11]. Das meritokratische Prinzip hat hier also über die Verwandtschaft gesiegt.

Versklavte also am Gipfel der Macht, an der Staatsspitze…


Sanusi Lamido Sanusi, Emir von Kano, Nord-Nigeria, vormals Gouverneur der nigerianischen Zentralbank [12]

Auch in Kano, heute Nigerias zweigrößte Stadt im zentralen Norden des Landes, gab es staatliche Versklavte. Bis zur britischen Kolonialisierung dienten sie dem Emir. Sie waren insbesondere die Hauptverantwortlichen für das Eintreiben der Steuern. In dieser Funktion kannten sie die verschiedenen Landesteile besser als alle anderen. Sie waren zudem für die royalen Chroniken und ihre Übermittlung zuständig. Während ilimi, das religiöse Wissen, anderen oblag, fiel alles, was sani – vom arabischen sina’a (Technisches, Handwerkliches) abgeleitet – betraf, in ihren Zuständigkeitsbereich. Sie waren es, die dem Emir die Kunst des Regierens ebenso beibrachten wie das Reiten zu Pferd und wie er sich anzuziehen und zu ernähren hatte. Die Wissensweitergabe unter staatlichen Versklavten von den Älteren zu den Jüngeren unterlag strenger Geheimhaltung (asiri). Denn freie Adelige mochten sich über das “servile Wissen“ mokieren, es verlieh beträchtliche Macht.

Ihre wichtige Rolle konnten die Versklavten des Emirs auch in der frühen Zeit der britischen Kolonialherrschaft bewahren, bis Mitte der 1920er Jahre. Ohne sie hätten die neuen Herren kaum regieren können.


Thron der Bamun-Könige – wer da wohl die Fußstütze trägt? [13]

Bamun (auch Bamum) ist ein im späten 14. Jahrhundert gegründetes Königreich in den kamerunischen Grasslands. Mit seiner Hauptstadt Foumban liegt es heute in der West-Region (östlich der anglophonen Nordwest- und Südwest-Regionen, wo seit Jahren Bürgerkrieg herrscht). Als Mbuembue (auch: Mbombuo) sich Ende des 18. und im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts an die militärische Expansion seines Reiches machte, hatten Streitereien unter aristokratischen Familien und Prinzen lange Zeit das Reich zerrüttet. Im Zuge der Kämpfe macht Mbuembue viele Gefangene – die den versklavten Teil der Bevölkerung auf circa die Hälfte aufstockten. Der König stützt sich auf diese Versklavten, um seine Macht gegenüber Rivalen zu konsolidieren.

Die besten und treuesten unter den Versklavten setzt er als Oberhäupter von neu eingerichteten Adelsgeschlechtern ein, verleiht ihnen Ländereien, schafft so eine neue Kategorie königlicher, “serviler“ Adeliger.

Doch nach dem Tod Mbuembues zerbricht das labile Gleichgewicht zwischen Alt- und Neuadeligen. An der Spitze der aus der Versklavung hervorgegangenen AristokratInnen übernimmt Nguwuo (auch: Ngouhouo) die Macht[14].


zuunterst, Bamun-Königsthron [15]

Im antiken Rom – wo eine erhebliche Anzahl afrikanischer Versklavter einen wesentlichen Teil des wirtschaftlichen Erfolges sicherten – konnten Versklavte vermietet werden. Dazu wurde im römischen Recht die Arbeit einer Person vom lebenden Menschen getrennt. Das Loslösen der “Frucht“ der Versklavten von ihrer Person verwandelt ihre Arbeitskraft in eine Ware, die ge- und verkauft werden kann. Anders als bei Marx um viele Jahrhunderte später sind es nicht die von allen Produktionsmitteln “Befreiten“, die ihre Arbeitskraft zu Markte tragen, sondern es sind die EigentümerInnen der Menschen selbst.

Der Ursprung der Entfremdung von Arbeit(skraft) als Ware, unter der wir im kapitalistischen Weltsystem heute noch leiden, liegt somit im brutalen, extrem hierarchischen, ausbeuterischen und menschenverachtenden Sozial- und Wirtschaftssystem des antiken Rom mit seinen Unmengen Versklavter[16].

* * *

Endnoten:

[1] Entschuldigen Sie bitte die schlechte Bildqualität, es gibt für dieses Foto keine höhere Auflösung auf Wikimedia. Die Bildunterschrift auf Wikimedia besagt, dass es Ex-Versklavte oft schwer haben und oft von ihren einstigen BesitzerInnen abhängig bleiben. Foto Magharebia 12.8.2011 auf 21°00′24.51″N, 10°57′03.1″W, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Conditions_de_vie_difficiles_pour_les_anciens_esclaves_mauritaniens_(6046084550).jpg.
Zum “Auge der Sahara“ oder “Auge Afrikas“, dem lange erloschenen Riesenvulkan Guelb er Richât, siehe Günther Lanier, Das Auge der Sahara. Weitab von Nouakchott, Ouagadougou (Africa Libre) 5.9.2018, https://www.africalibre.net/artikel/310-das-auge-der-sahara-oder-weitab-von-nouakchott, am 5.9.2018 auf Radio Afrika TV erschienen, dort aber nicht mehr im Archiv.

[2] Petra Radeschnig gilt – wie stets – mein herzlicher Dank fürs Lektorieren!

[3] Siehe Laurent Correau, Howard French: «L’esclavage a été la base de l’essor européen et de la création de l’Occident», RFI 12.10.2024, https://www.rfi.fr/fr/podcasts/le-grand-invit%C3%A9-afrique/20241012-howard-french-l-esclavage-a-%C3%A9t%C3%A9-la-base-de-l-essor-europ%C3%A9en-et-de-la-cr%C3%A9ation-de-l-occident.

[4] 2024 erhielt dieser Sohn eines Ex-Versklavten in seiner Auflehnung gegen das Establishment beachtliche 22,1% der Stimmen. Siehe z.B. RFI, Présidentielle en Mauritanie : Mohamed Ould Ghazouani réélu, selon les résultats provisoires officiels, RFI 1.7.2024, https://www.rfi.fr/fr/afrique/20240701-pr%C3%A9sidentielle-en-mauritanie-mohamed-ould-ghazouani-r%C3%A9%C3%A9lu-selon-les-r%C3%A9sultats-provisoires-officiels.

[5] Yatenga, heute eine Provinz im Norden Burkina Fasos, war einst die zweitmächtigste unter den Mossi-Monarchien. Hauptstadt Ouahigouya. Abgebildet sind naaba (König) Sigiri 1954-60, naaba Tigré 1914-54 und naaba Koom 1960-75 (Koom II). Foto Fred P. M. van der Kraaij 1982, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:ASC_Leiden_-_F._van_der_Kraaij_Collection_-_12_-_050_-_Trois_peintures_murales_de_rois_traditionnels_(Naaba)_de_Yatenga_-_Sanmatenga,_Centre-Nord,_Burkina_Faso,_1982.tif.

[6] Paulin Ismard (Hg.), Les mondes de l’esclavage. Une histoire comparée, Paris (Editions du Seuil) 2021, neue, um ein Kapitel erweiterte Auflage 2024. Danke wieder einmal, liebe Hanna, für dieses Buch!

[7] Und dass selbst die “Befreiung“ der Versklavten oft oder meist keine Freiheit mit sich brachte – siehe auch die Bildunterschrift zu dem Foto, das dem Artikel vorangestellt ist.

[8] Das Kapitel “Esclavage public“ – was der Überschrift meines Artikels entspricht – findet sich auf pp.511-522.

[9] Die Moogo naabas waren die südlichen Nachbarn der Yatenga-Naabas, sie herrschten über das größte unter den Mossi-Reichen und residierten in Ouagadougou. Zeichnung von Édouard Riou in Louis Gustave Binger, Du Niger au Golfe de Guinée par le pays de Kong et le Mossi, 1892, p.41, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Boukary_Koutou%27s_Mossi_cavalry_returning_with_captives_from_a_raid,_Ouagadougou.jpg.

[10] Foto französische Nationalbibliothek 2022, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Mamluk_Sultanate_in_the_Catalan_Atlas_(1375),_ruler_and_flags.jpg.

[11] Eine einzige hielt etwas länger, von 1310-82. Siehe das zur Gänze den Mameluken gewidmete Kapitel “Des esclaves sur le trône“, pp.133-138, im referierten Buch “Les mondes de l’esclavage“.

[12] Sanusi Lamido Sanusi war 2014-20 Emir, wurde dann abgesetzt, aber am 23.5.2024 wieder eingesetzt. Foto Babson71 am 24.3.2015, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Emir_of_Kano_Sunusi_Lamido_Sunusi.jpg.

[13] Gesammelt von der Mission Henri Labouret in Foumban, Kamerun, 1934. Foto Ji-Elle 29.6.2022 im Musée du quai Branly, leicht zugeschnitten GL, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Tr%C3%B4ne_royal_Bamoun-Mus%C3%A9e_du_quai_Branly_(1).jpg.

[14] Auf p.576 des referierten “Les mondes de l’esclavageweist Cécile Vidal im Kapitel “Maîtres“ darauf hin, dass die meisten der staatlichen Versklavten einer Person – die den Staat verkörperte – (zu)gehörten. In Athen gab es im 5. Jahrhundert vor der Zeitenwende staatliche (oder stadtstaatliche) Versklavte. Eine weitere Ausnahme stellen die Versklavten von Handelsgesellschaften dar (z.B. die Niederländische Ostindien-Kompanie), die in der frühen Zeit der Kolonialisierung vielerorts quasi-staatliche Herrschaft ausübten.
Auch unter nicht-staatlichen Versklavten dominieren ganz eindeutig die einer Person (zu)gehörigen. Tempeln zugeordnete Versklavte bilden dort die Ausnahme.

[15] Detail des zuvor abgebildeten Throns. Foto Ji-Elle 29.6.2022, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Tr%C3%B4ne_royal_Bamoun-Mus%C3%A9e_du_quai_Branly_(d%C3%A9tail).jpg/

[16] Das kapitalistische Weltsystem habe ich hinzugefügt, aber die Idee ist von Paulin Ismard, dem Herausgeber des referierten “Les mondes de l’esclavage“ in seinem Kapitel “Marché“ (Markt) auf pp.600f.

Afrika Tv

Tue 18:00 - 18:30
Wed 16:00 - 16:30
Thu 14:00 - 14:30
Fri 12:00 - 12:30
Sat 10:00 - 10:30
Sun 08:00 - 20:30

Radio Afrika International

On Orange FM 94.0 MHZ

Mon 09:00 - 10:00
Tue 09:00 - 10:00
Wed 09:00 - 10:00
Thu No Transmition
Fri 09:00 - 10:00
Sat 09:00 - 10:00
Sun 09:00 - 10:00

Radio Afrika International

On Ö1 campus

Mon 15:00 - 17:00
Tue 15:00 - 17:00
Wed 15:00 - 17:00
Thu 15:00 - 17:00
Fri 15:00 - 17:00
Sat 15:00 - 17:00
Sun 15:00 - 17:00

Current Events

take a look at the events that are happening right now.

Radio Afrika Tv Newsletter

Sign up to be inside the updates that Radio Africa Tv publishes

Radio Afrika youtube channel

Radio Afrika Tv Podcast

Newsletter Abonnieren

Bleiben Sie mit unserem monatlichen Newsletter über unsere Arbeit informiert!