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Land und Freiheit oder Die ungeschriebene Geschichte von morgen

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Teeplantage, Limuru [1]

* * *

Günther Lanier, Ouagadougou 22.3.2023[2]

* * *

In den 1950ern war die Land and Freedom Army, bekannt unter dem Namen “Mau Mau“[3], eine Freiheitsbewegung vor allem der Kikuyu gegen die britische Herrschaft in Kenia. Sie wurde mit ungeheurer Brutalität niedergerungen und fast ausradiert; trotzdem bedeutete sie einen qualitativen Sprung in Richtung Befreiung des Landes von der Fremdherrschaft – wer zu solchen Mitteln des Machterhaltes greift, delegitimiert, ja disqualifiziert sich selbst.

Obwohl die in Kenia seit der Unabhängigkeit 1963 herrschende Elite von Kikuyus dominiert wurde – insbesondere war der “Vater der Unabhängigkeit“ Jomo Kenyatta ein Kikuyu –, blieben die “Mau Mau“ bis 2003 verboten.

Sechs Jahre nach dem Aufheben des Verbots gingen fünf alte und gebrechliche KenianerInnen in London vor Gericht und erhielten dort aufsehenerregenderweise Recht gegen die britische Regierung ob des ihnen in den 1950er Jahren von britischen Kolonialbeamten angetanen grausamen Unrechts.


Ein Freiheitskämpfer wird mit Essen versorgt: Memorial für die Opfer von Folter und Misshandlungen während der Kolonialzeit[4]

Ndiki Mutua and others vs. The Foreign and Commonwealth Office hieß die Sache. Mitte 2013 erklärte sich London bereit, 19,9 Mio britische Pfund Kompensation zu zahlen – wenig, denn das Geld war nicht den fünf KlägerInnen vorbehalten[5], sondern sollte über 5.000 in der Sache von der Anwaltskanzlei Leigh Day vertretene KlägerInnen entschädigen. Auch übernahm der britische Staat die Prozesskosten und verpflichtete sich, in Nairobi ein Memorial für die Folteropfer der 1950er Jahre zu errichten, was 2015 tatsächlich geschah (siehe Foto).

Nebenbei hat die Verhandlung vor Gericht auch die Veröffentlichung britischer Staatsgeheimnisse bewirkt. Diese sogenannten Hanslope Park-Enthüllungen betrafen 300 Kisten mit Geheimakten. Sehr viel mehr inkriminierende Akten waren allerdings vor dem Abzug der britischen Kolonialverwaltung vor Ort vernichtet worden, schließlich sollte der antretenden “unabhängigen“ Regierung kein Material hinterlassen werden, das für London peinlich oder gar beschämend (in der Amtssprache: “embarrassing“) sein könnte.

Das Zerstören der Akten hat unwiederbringlich Informationen und Wissen vernichtet. Unwiederbringlich zerstört wurden aber vor allem die Leben von KenianerInnen, ob sie nun zu Tode oder nur zu physischem und psychischem Schaden kamen. Wiedergutmachung, Reparation, Kompensation sind da ebenso dringend nötig wie unmöglich. Die in erster Linie symbolische Niederlage Londons vor Gericht war mehr als überfällig, auch wenn sie zu spät kam, um den betroffenen FreiheitskämpferInnen wirkliche Genugtuung zu bereiten[6].

Die im Prozess von den fünf KlägerInnen erzählten Dinge sind unfassbar. Sie sind anderswo nachzulesen[7]. Hier präsentiere ich einen anderen Aspekt des Mau Mau-Skandals, einen kurzen, 15-minütigen Film, der sich mit einem ehemaligen, nunmehr greisen Land- und Freiheitskämpfer beschäftigt, der im Radio den Gerichtsentscheid aus London hört. Der Film ist aus 2013, ist von der kenianischen Regisseurin und Künstlerin Amirah Tajdin, heißt “His to Keep“, was so viel bedeutet wie “Ihm zum Aufbewahren anvertraut“ und ist auf vimeo besichtigbar[8].

Der Film spielt in Limuru, einer Kleinstadt 30 km nordwestlich von Nairobi, in den “White Highlands“, von dort ist auch das dem Artikel vorangestellte Foto. “Weißes Hochland“ hieß das Gebiet, weil das Land so fruchtbar war, dass sich weiße SiedlerInnen darum rissen und sich vor allem dort ansiedelten. Diese weißen SiedlerInnen waren es auch, die am heftigsten und unmenschlichsten gegen die FreiheitskämpferInnen vorgingen[9]. Beim Nacherzählen des Filmes lehne ich mich eng, vielfach übersetzend, an die Darstellung an, die Elliott Ross in seiner sehr empfehlenswerten Dissertation “Lesen und Wiederherstellung: ‘Mau Mau’-Fiktionen“ inkludiert hat[10].


Die Land and Freedom fighters werden nach dem Ort, wo sie lebten, oft forest fighters genannt. Kinare-Wald, Limuru [11]

Der Film His to Keep erzählt die Geschichte eines Nachmittags. Ein gepflegter, in die Jahre gekommener Land and Freedom-Veteran hört im Radio die Nachricht, dass der Fall Mutua et al. gegen das Foreign and Commonwealth Office vor dem Obersten Gerichtshof in London verhandelt werden wird. Er sitzt allein in einem Fauteuil im Wohnzimmer eines kleinen Hauses, blaues Sakko, beiges Hemd, oberster Knopf offen. An der Wand gegenüber blättert die blassgrüne Farbe ab. Ein Stapel Bücher, rote Rosen, eine Flasche Alkohol, ein porzellanenes Teeservice. Darüber ein gerahmtes Foto von sechs jungen Männern mit Gewehren, vielleicht in einem Wald. Sein Telefon läutet, mit zitternder Hand hebt er ab. Eine Frauenstimme: “Ich habe immer gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Endlich können wir…“ Er unterbricht sie: “Ich habe es noch erlebt, aber ich weine Tränen des Schmerzes, nicht der Freude. Es hat nie so kommen sollen. Njeri, es war…“. “Ich weiß“, wirft sie ein. “Tu’ Dir nicht selber mit Worten weh. Ich schau’ später vorbei.“ Er verkneift sich Tränen, legt auf, lehnt sich zurück und schaut kurz auf das Foto an der Wand.

Kurz ein Bild von draußen: ein grün bewaldeter Hügel.

Drinnen ein Foto von Martin Luther King Jr. bei einer Rede. Darüber eine rote Plastikuhr, die 4h anzeigt, der Sekundenzeiger bewegt sich nicht. Der Alte zündet sich den Stummel einer selbstgedrehten Zigarette an, die Hände zittern, er macht den Stummel aus, wir hören den Anfang von Robert Johnsons Drunken Hearted Man (Mann trunkenen Herzens), er steht langsam auf, sich am Stock festhaltend, geht ins Schlafzimmer, wo neben dem offenen Kasten an einem Nagel eine Guerilla-Uniform hängt. “Ich bin ein Mann trunkenen Herzens / mein Leben scheint eine Misere / ich bin der Mann mit dem trunkenen Herzen / mein Leben scheint eine Misere / könnte ich meine Art zu leben ändern / würde mir das so viel bedeuten“. Dann eine Aufnahme eines gerahmten Schwarz-weiß-Fotos, ein Kleinkind. Ohne Hemd, mit stattlichem Bauch, rasiert er sich sorgfältig rund um seinen Kinnbart. Kurz sehen wir das Foto einer jungen Frau, auch schwarz-weiß, mit goldenem Rahmen, auf einem Spitzendeckchen auf dem Nachtkästchen. Stille. Zikaden. Auch Kühe sind zu hören. Er zieht die Uniform an, dazu ein marineblaues Barett, knöpft den schweren grauen Mantel zu, dann sitzt er auf seinem Bett, hält seinen Stock mit unsicherer Hand.

Schnitt. Vergangenheit. Nacht. Er selbst, sehr jung, in demselben grauen Mantel, nähert sich einem Haus, klopft. Eine junge Frau macht auf. “Danke, Njeri“, sagt er, während er eine Tasche entgegennimmt, wie es das Memorial oben darstellt. “Geht es Euch im Wald gut?“, fragt sie ihn und fügt hinzu: “Sie sagen, dass die von der Heimwehr[12] die Frauen vergewaltigen.“ “Scheiß Arschlöcher!“, stößt er laut hervor, “Deshalb sind wir da draußen. Deshalb… Und meine Frau?“ “Hier bin nur ich“, ist die Antwort. Er ringt mit sich. Beide schweigen. Es gibt nichts zu sagen.

Schnitt. Gegenwart. Er küsst seine Finger und legt sie auf das Gesicht der Frau in dem Foto. Während er sich aus dem Schlafzimmer müht, blickt die Kamera weiter auf das Foto. Wieder erklingt der Refrain des Drunken Hearted Man. Nebenan holt der alte Mann dann ein kleines Packpapier-Päckchen aus einer Truhe, müht sich durch die Tür nach draußen und für den Rest des Films ist rundum fast nur Natur, viele Bäume, viel Wind, viel Grün.

Der alte Mann setzt sich ins Gras, öffnet das Päckchen und entfaltet eine kenianische Fahne, steht auf, geht zu einem Fahnenmast am Rand des Gartens. Ein weinroter Land Rover nähert sich auf dem kleinen Weg unterhalb. Eine ältere Frau steigt aus, geht langsam und vorsichtig den Abhang hinauf, die Hände im Rücken verschränkt. Der jüngere Mann, der sie gefahren hat, bleibt im Auto sitzen. “Wamiti!“, ruft sie ihn. “Hallo Njeri“, antwortet er, während er weiter mit der Schnur des Fahnenmasts beschäftigt ist. Beide stehen mit dem Rücken zur Kamera. “Sie war auch meine Schwester“, erinnert sie ihn. “Ich habe sie auch verloren. Sie hat mir vorgeworfen, dass ich Dich und Deine Kameraden unterstütze.“ Pause. “Ich hatte niemanden. Du hattest Deine Brüder im Wald. Mit wem war ich? Ich war allein. Du bist nicht der Einzige, der jemanden geliebten verloren hat.“ Er dreht sich langsam zu ihr um. “In der Nacht, als sie fortging, sagte sie mir, dass sie Dich immer lieben würde, aber dass sie es nicht riskieren könne, dass ihr Sohn, Dein Sohn aufwüchse ständig in Angst um sein Leben inmitten all der Gewalt und der Qual.“ Stille. “Wir machen alle Fehler, die wir nicht wieder gutmachen können“, antwortet er. “Jetzt weiß ich das. Eine Zeit lang schon weiß ich das. In meiner Jugend habe ich geglaubt, dass mir das Kämpfen für mein Land Freiheit bringen würde. Aber alles, was ich davon gehabt habe, war eine Verurteilung zu lebenslanger Einsamkeit.“ Inzwischen ist der Fahrer heraufgekommen und steht neben Njeri. Wir sehen die beiden von vorne. Wamiti spricht weiter: “Alle haben sich gegen mich gewandt. Meine Frau. Ich habe mich selbst belogen. Ich war kein Held. Ich bin jetzt ein Niemand. Ich kenne nicht einmal meinen Sohn, kenne auch meine Enkelkinder nicht.“ Der jüngere Mann geht auf ihn zu, kniet sich nieder, legt seine Hand auf Wamitis auf den Stock gestützte Hand. “Sogar Söhne machen Fehler“, sagt er zu ihm. “Bin jetzt hier.“ Er nimmt seine weiße Tellermütze ab. “Die Geschichte von morgen ist noch nicht erzählt.“ Wamiti wechselt den Stock in die linke Hand, legt seinem Sohn seine rechte Hand auf den Kopf. “Sohn“, sagt er zu ihm. “Steh’ auf!“ Er wendet sich dem Fahnenmast zu und zieht die Fahne hoch, während Njeri und sein Sohn still zuschauen. “Für meine Frau“, sagt er. “Außer ihr habe ich im Kampf keinen Helden verloren.“ Er deutet ein Salutieren an, nimmt das Barett ab und starrt zur Fahne hinauf. Njeri kehrt um. Sein Sohn schaut ihm von hinten zu. Wieder hören wir Robert Johnson – in den Nachspann hinein: “Ich bin ein Mann trunkenen Herzens / mein Leben scheint eine Misere / ich bin der Mann mit dem trunkenen Herzen / mein Leben scheint eine Misere / könnte ich meine Art zu leben ändern / würde mir das so viel bedeuten“.


Tigoni-See, Limuru [13]

Auch wenn ich mit einem wunderschönen Foto schließe: Es gibt keine Erlösung von der kolonialen Vergangenheit. Für FreiheitskämpferInnen schon gar nicht.

* * *

Endnoten:

[1] Foto Antony Trivet 23.7.2020, zugeschnitten GL, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Tea_Farm_Limuru.jpg.

[2] Petra Radeschnig gilt – wie stets – mein herzlicher Dank fürs Lektorieren!

[3] Siehe auch meinen Artikel vor zwei Wochen: Günther Lanier, Weißsein in Kenia, Mitte 20. Jahrhundert, https://www.africalibre.net/artikel/492-weisssein-in-kenia-mitte-zwanzigstes-jahrhundert bzw. https://radioafrika.net/weissein-in-kenia-mitte-20-jahrhundert/.

[4] Foto U249601, 10.11.2016, zugeschnitten GL, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:A_memorial_in_honour_of_victims_of_torture_during_the_colonial_era.jpg.

[5] Die fünf waren Ndiki Mutua, Paulo Nzili, Susan Ciongombe Ngondi, Jane Muthoni Mara, Wambugu Wa Nyingi.

[6] Das Foto der fünf greisen KlägerInnen vor der Downing Street 10 – ich habe leider keine gemeinfreie Version gefunden, sonst hätte ich den Artikel mit ihm begonnen – illustriert perfekt die unermessliche Distanz zwischen den beiden Seiten im Prozess (und somit auch im Krieg der 1950er Jahre). Siehe die Fotos z.B. in den Artikeln https://www.dailymail.co.uk/news/article-1373650/Mau-Mau-rebellion-Torture-rebels-including-Obamas-grandfather.html oder https://theconversation.com/academic-sleuthing-uncovered-british-torture-of-mau-mau-fighters-15010.

[7] Z.B. in Elliott Ross, Reading and Repair: Fictions of “Mau Mau”, Dissertation an der Graduate School of Arts and Sciences, University of Columbia 2019, https://academiccommons.columbia.edu/doi/10.7916/D8P28G50.

[8] Und zwar unter https://vimeo.com/210571742.

[9] SiedlerInnenkolonien wehrten sich heftiger als andere gegen die Entkolonialisierung – siehe Südafrika, Simbabwe, Namibia, Algerien und eben Kenia.

[10] Elliott Ross (2019/s. Fußnote 7), pp.194-200.

[11] Foto Antony Trivet 15.7.2017, leicht überarbeitet GL, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kinare_Forest_Limuru.jpg.

[12] Homeguards, von den Kolonialbehörden 1953 bis 1955 für den Kampf gegen die “Mau Mau“ angeworbene einheimische Paramilitärs.

[13] Foto Ronsenseii 3.11.2019, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Lake_Tigoni_,_Limuru.jpg.

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