Dorf nahe Keroka, Nyamira County [1]
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Günther Lanier, Ouagadougou 19. März 2025[2]
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Zeit: 7 Uhr Früh, ein Sonntagmorgen im Jänner 1983.
Ort: der Vorhof des Hauses der Bäuerin (welches, wie traditionell üblich, ein Strohdach hat), der Boden ist rasenbedeckt, Bäume spenden Schatten, was um diese Uhrzeit noch nicht notwendig ist.
Alles ist bereit.
Die 60-jährige Herrin des Anwesens, Mutter von zehn Kindern, leidet unter Kopfweh. Acht Jahre zuvor ist sie mit dem Kopf heftig gegen einen Dachbalken gestoßen. Seither hören ihre Kopfschmerzen nicht auf, werden ärger, beeinträchtigen mehr und mehr ihre Arbeit daheim und auf dem Feld. So hat sie den Omobari konsultiert, der ist in solchen Fällen zuständig – seine Kraniotomie, das operative Öffnen der Schädeldecke[3], heilt in solchen Fällen meist effizienter als die moderne Medizin. Eine Kraniotomie wurde in gegenseitiger Abstimmung (Bäuerin, ihre Familie, der Omobari) bei der Besprechung vor einigen Wochen für diesen Sonntagmorgen vereinbart[4].
Die Patientin ist seit dem Vorabend nüchtern. Ihr Kopf wurde von einem Gehilfen rasiert. Ein Familienmitglied hat ihren Kopf mit Wasser und Seife gewaschen. Das Operationsbesteck ist in einem Aluminium-Behältnis mit kochendem Wasser übergossen und dann fein säuberlich auf einem Stuhl aufgereiht worden. Der Chirurg hat sich die Hände mit Seife gewaschen und sie dann von einem Gehilfen mit sauberem Wasser übergießen lassen. AkteurInnen und ZuschauerInnen stehen auf, während eine erwachsene Tochter der Patientin ein christliches Gebet spricht[5].
Die Patientin setzt sich dann wieder auf eine Decke, die über das Gras gebreitet ist. Ihr Bruder sitzt hinter ihr auf einen Hocker, um ihre Schultern halten zu können. Der Chirurg steht der Patientin gegenüber und beugt sich über ihren Kopf. Er tastet ihren Schädel ab, nimmt sich Zeit dafür, versucht, den wahrscheinlichsten Punkt der einstigen Verletzung zu finden. Dort wird er die Inzision vornehmen, das Durchtrennen von Haut und Weichgewebe.
Der Operateur spritzt dann das Lokalanästhetikum Procain[6]. Die Operierte ist während der ganzen Prozedur überaus kooperativ, zeigt keinerlei Anzeichen von Nervosität oder Angst, gibt nur selten und leise zu erkennen, wenn ihr etwas wehtut. Der Patientinnenbruder und die Gehilfen des Operateurs sind für das Stabilisieren des Kopfes verantwortlich – das bedeutet, den Kopf zu stützen, es wird keinerlei Zwang angewandt.
Gearbeitet wird vor allem am Knochen (“cranial bone“/im Schema gelb gerahmt) [7]
Mit einem kleinen Nirosta-Taschenmesser bringt der Omobari dann am ausgewählten Ort am Scheitelpunkt leicht rechts der Mittellinie einen 10 cm langen Schnitt an. Die Patientin beklagt sich leise, ohne in irgendeiner Weise Widerstand zu leisten. Mit den Fingern legt der Chirurg dann das Operationsgebiet frei[8]. Seine Gehilfen halten die Wundränder mit Retraktoren[9] auseinander, während der Operateur das Gewebe über dem Knochen anhebt und unter den Wundrändern zermahlene Blätter anbringt, um das Blut zu stillen.
Nun beginnt die Arbeit am Knochen. Mit einem Schaber[10] und schnellen, rhythmischen, überraschend effizienten Bewegungen entfernt der Omobari in einem 6 mal 8 Zentimeter messenden Oval die äußere Tabula (die äußere Knochenschicht – der Schädelknochen besteht aus äußerer und innerer Knochenschicht/Tabula, dazwischen liegt die Diploe, ein schwammartig konstruiertes Knochenbälkchensystem). Hin und wieder tupft der Operateur oder einer seiner Gehilfen die Wunde mit Blättern oder einem Schwämmchen ab. Das Kürettieren wird dann an der Diploe fortgesetzt. Bevor er sich an die innere Tabula macht, legt der Chirurg eine kleine Pause ein, Zeit genug, damit seine Patientin ein Cola trinkt. Dann macht sich der Omobari mit einem feineren Schaber an die innere Knochenschicht. Immer wieder testet er die Festigkeit des verbleibenden Knochens mit seinem Zeigefinger. Als er dabei beträchtliche Flexibilität feststellt, nimmt er einen Spieß statt des Schabers und macht mit dessen Spitze mit großer Vorsicht und Sanftheit ein Loch in die innere Tabula. Dann vergrößerte er dieses mittels kleiner, nach außen gerichteten Bewegungen des Spießes. So wird die Dura[11] sichtbar, die äußerste Hirnhaut. Dann entfernt der Chirurg weitere Teile der inneren Tabula, bis ein 4 mal 5 cm messendes Oval der Dura freigelegt ist, ihr Pulsieren deutlich sichtbar.
Die Wunde wird in der Folge mit sauberem Wasser aus einer Teekanne gewaschen. Eine Schicht Mineralöl wird drüber geleert, dann wird ghee appliziert, Butterschmalz[12] – dieses ist bekannt für seine entzündungshemmende und antimikrobielle Wirkung. Mit einer einzigen, mit Nadel und Nylon-Faden angebrachten Sutur wird sichergestellt, dass die Kopfhautreste links und rechts bleiben, wo sie hingehören. Im Wesentlichen handelt es sich aber um eine offene Wunde.
Die Operation hat 55 Minuten gedauert.
Der Patientin wird auf die Füße geholfen. Sie geht und redet normal, ist aber froh, ins Haus begleitet zu werden und sich dort hinlegen zu können. Der Chirurg ist zufrieden, die Operation ist gut verlaufen. Er erwartet einen problemlosen Heilungsverlauf.
Screenshots aus einem Facebook-Video, in dem es um Kraniochirurgie in Afrika geht [13]
Die Artikelautoren lassen die Geschichte so nicht auf sich beruhen. Sie verfolgen den Heilungsprozess ein Jahr lang weiter. Zur Operation selbst erzählt die Patientin, dass sie bei der Inzision am Anfang Schmerz gespürt hat, danach aber nicht mehr, obwohl sie das Schaben klar gehört hat. Ihr schien die Operation lange zu dauern und sie war nachher sehr müde. Sie verbrachte zwei Tage im Bett, dann war sie wieder unterwegs. Am ersten Tag nach der Operation trank sie nur zwei Tassen Tee und eine Woche lang nahm sie nur Flüssiges zu sich. Der Omobari erneuerte drei Wochen lang alle drei Tage die Wundversorgung, wozu er Heilkräuter verwendete[14]. Nach sechs Wochen war all das nicht mehr nötig – mit Hilfe ihrer Familie wusch die Patientin die Wunde dann täglich. Nach fünf Monaten war die Wunde verheilt.
Schon kurz nach der Operation konnte sie in und um das Haus leichte Arbeiten ausführen. Ein halbes Jahr lang fühlte sie sich ganz leicht schwindlig, dazu auch schwach. Als die Artikelautoren die Patientin ein Jahr nach der Operation besuchten, trug sie gerade eine beträchtliche Menge Holz nach Hause zurück – obwohl sie betonte, dass sie nach wie vor schwere Arbeit vermied. Sie war mit dem Ergebnis der Operation sehr zufrieden. Die Wunde war gut verheilt, es war nur mehr eine dünne Linie zu sehen. Und sie hatte kein Kopfweh mehr.
ein Abagusii-Anwesen nahe Kisii-Stadt [15]
3 Jahre lang haben David W. Furnas, M Ashraf Sheikh, Pieter Van den Hombergh, F. Froeling und Isaac M. Nunda zur Kraniotomie unter den Abagusii geforscht. Ich habe mich auf das “Gusto-Stück“ ihres Artikels konzentriert, kann hier bei weitem nicht alle ihre Ergebnisse referieren. Nur so viel sei verraten: Die Operationen der Omobari sind ihren Statistiken zufolge zu einem überraschend hohen Prozentsatz erfolgreich, in einer erheblichen Zahl von Fällen auch dort, wo die moderne Medizin vorher versagt hatte. Beide oder alle Geschlechter und alle Altersklassen werden behandelt. Omobari waren zumindest in den 1980ern allerdings immer Männer.
Um es nochmals ganz klar auszudrücken. Die Kraniochirurgen der Abagusii sind Techniker wie MedizinerInnen in reichen Ländern auch. Sie wenden ihr Wissen zum Wohl ihrer PatientInnen an. Diese zahlen dafür mitunter erhebliche Preise (ein Rind oder sogar mehrere). Mit Spiritualität oder Magie hat es absolut nichts zu tun (außer ein Omobari beschließt für sich, das anders zu handhaben).
Es ist gemutmaßt worden, dass die Kraniotomie der Abagusii aus dem Alten Ägypten stammt (die ägyptische Zivilisation gilt ja Cheikh Anta Diop zum Trotz als “weiß“, alles Gute und Außergewöhnliche kann nicht aus Afrika selbst kommen). Das ist wenig wahrscheinlich, die Abagusii sind Bantu, kamen einst aus dem Westen – Richtung Norden gab es wenig Kontakte, sodass ein Übernehmen komplexer Techniken unwahrscheinlich ist. Auch war das Öffnen von Schädeldecken im Alten Ägypten nicht sehr verbreitet.
Getrieben wurden die Artikelautoren ganz offensichtlich von einem ehrlichen Interesse, der Wahrheit auf die Spur zu kommen und sie in auch für LaiInnen wie mich verständlicher Form weiterzugeben. Dass sie dabei mit großer Sorgfalt vorgingen und dem Respekt, den sie für ihnen ebenbürtige Experten empfanden, gebührend Ausdruck verliehen, ist ihnen hoch anzurechnen.
Kisii County auf der Kenia-Karte [16]
Üblicherweise liefere ich zuerst Hintergrundinformationen, dann kommt, so vorhanden, eine Konkretisierung, das kann ein Fallbeispiel sein. Dieses Mal wollte ich von der trotz wissenschaftlicher Aufbereitung wunderbaren Geschichte der schädeldeckenöffnenden Operation unter Lokalanästhesie mitten am Land im Südwesten Kenias nicht ablenken. Hier ein paar wenige unumgängliche Informationen zu den Abagusii – das ist ihre Eigenbezeichnung: Bekannter sind sie unter ihrem Swahili-Namen Kisii. Es gibt auch einen Kisii-Bezirk (Kisii County) und eine Kisii-Stadt (Kisii Town). Die Abagusii leben traditionell in Kisii County und Nyamira County, dazu noch in Teilen von Kericho County und Bomet County, alle im Südwesten Kenias unweit des Victoriasees. Es gibt an die 3 Millionen Ekegusii-SprecherInnen[17]. Als südliche NachbarInnen werden im Artikel die ungleich berühmteren, ganz anders lebenden Maasai (oder Massai) genannt. Traditionellerweise sind die Abagusii LandwirtInnen – Viehzucht wird ergänzend und jedenfalls nicht nomadisch betrieben.
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Laut Arthur Dobrin – der selbst 1966 Zeuge einer Kraniotomie bei den Abagusii war – ist diese medizinische Praxis mittlerweile (er schrieb das Anfang 2024) ausgestorben. Das finde ich überraschend, denn in den 1980er Jahren gab es laut zitiertem Artikel eine große und durchaus auch zahlungsfähige Nachfrage – doch schon damals wurden in ebendiesem Artikel Zweifel am Überleben der traditionellen Kraniotomie geäußert. Das lag insbesondere am Alter der praktizierenden Omobari – ein einziger war 30, alle anderen über 50.
Ich habe bei meinen Internet-Recherchen keinerlei Hinweis auf ein Fortbestehen dieser chirurgischen Praktik gefunden – ich würde mich sehr freuen, wenn ich mich täusche.
Arthur Dobrin, emeritierter Professor der Hofstra University (Long Island, New York) schreibt, er hätte von Matunda Nyanchama, einem prominenten kenianischen Verleger, der selbst Abagusii ist, erfahren, dass die Kraniotomie von den meisten Chefs in den 1960ern verboten worden war und dass diejenigen, die sie praktizierten, kaum Schüler fanden. In den 1980ern hätte es Bemühungen gegeben, sie wiederzubeleben, teilweise auch, um sie in die moderne Medizin zu integrieren. Doch daraus wurde nichts[18].
Schade.
Herzlichen Dank an David W. Furnas, M Ashraf Sheikh, Pieter Van den Hombergh, F. Froeling und Isaac M. Nunda für ihren ausgezeichneten Artikel! Was den letzten unter den fünf Autoren betrifft, so war er, selbst ein Abagusii, sicher bei der Feldforschung und beim Artikelschreiben von zentraler Wichtigkeit.
Endnoten:
[1] Die meisten Abagusii leben in Kisii und Nyamira County im Westen Kenias. Foto Trees ForTheFuture 23.10.2008, zugeschnitten GL, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Dickson%27s_village_outside_Keroka.jpg.
[2] Petra Radeschnig gilt – wie stets – mein herzlicher Dank fürs Lektorieren!
[3] Erfolgt das Öffnen der Schädeldecke durch Bohren, was bei den Abagusii nicht der Fall ist, so heißt die Operation “Trepanation“. Dieser Begriff ist aus der Archäologie bekannter als “Kraniotomie“.
[4] Hauptquelle meines heutigen Artikels ist David W. Furnas, M Ashraf Sheikh, Pieter Van den Hombergh, F. Froeling, Isaac M. Nunda, Traditional Craniotomies of the Kisii Tribe of Kenya, Jänner 1986, Annals of Plastic Surgery Bd.15, Nr.6, pp.538-556, https://www.researchgate.net/publication/19282145_Traditional_Craniotomies_of_the_Kisii_Tribe_of_Kenya. Die Operation wird dort beschrieben auf pp.549ff. Bei der OP-Beschreibung folge ich teils dem Text eins-zu-eins und das, ohne Anführungszeichen zu verwenden.
[5] Ob gebetet wird oder sonstige Rituale angewandt werden, ist Sache der Beteiligten – die Kraniotomie der Omobari ist nur die Anwendung von medizinischem Fachwissen, hat an sich keine spirituelle Seite.
[6] Zur Dosis merken die Ärzte, auf deren Artikel ich mich stütze, an, dass sie zu klein scheint für die Größe der Wunde. Siehe p.554 des zitierten Artikels.
[7] Illustration von Henry Vandyke Carter in einem 1918 erschienenen Anatomie-Buch von Henry Gray, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Gray1196.png.
[8] Dabei arbeitet er an der “Kopfschwarte“ und vor allem an der “Sehnenhaube“ (Galea aponeurotica) über der Schädeldecke.
[9] Es dürfte sich um “Wundhaken“ handeln.
[10] Zu den Werkzeugen des Omobari siehe p.543 des Artikels – inkl. Abbildung.
[11] Im Deutschen scheint sie vollständig “Dura mater“ zu heißen, aber “Dura“ ist üblicher. Das gilt auch fürs Englische, im Artikel wird nur “dura“ verwendet.
[12] Im Gegensatz zu Butter ist ghee nahezu milcheiweiß- und wasserfrei.
[13] https://web.facebook.com/watch/?v=998875542294640&rdid=u6SoUQyEvmLOQA2l.
N.B. Es handelt sich nicht um Fotos von der geschilderten Operation. Der Artikel selbst bietet zwar eine Menge solcher Fotos, aber in seiner mir zugänglichen Version ist deren Qualität so schlecht, dass ich sie nicht verwenden könnte, sogar wenn ich die Rechte dazu hätte.
Noch ein N.B.: Ich bin in Facebook ein völliges Greenhorn, es ist an der Quellenangabe wohl ersichtlich. Ich weiß nicht, wer die Video-Autorin ist und wie ich sie kontaktieren und um Erlaubnis bitten könnte. Ich glaube, dass Bilder in Videos der Sozialen Medien überwiegend gemeinfrei sind – sollte dies im vorliegenden Fall nicht so sein, bitte ich um Verständigung – ich entferne sie dann sogleich. Herzlichen Dank im Voraus! GL.
[14] Im Artikel wird das Verbinden der Wunde weder beschrieben noch mittels Fotos gezeigt. Es ist von “dressings“ die Rede bzw. Schrift, das meint üblicherweise einen Verband. Ein solcher ist wohl nötig, um die Heilkräuter in und auf der heilenden Wunde zu halten.
[15] Foto Reinhard Kaufmann 5.2.2011, leicht zugeschnitten GL, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Near_Kisii_-_Kenya.JPG.
[16] Karte erstellt von Nairobi123 am 22.7.2013, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kisii_location_map.png.
[17] 2,7 Millionen sollen es 2019 laut Kenias Nationalem Statistikamt gewesen sein. Siehe 2019 Kenya Population and Housing Census, Band 4.
[18] Siehe Arthur Dobrin, D.S.W., What a Head Operation Under a Tree Taught Me, Psychology Today 9.1.2024, https://www.psychologytoday.com/us/blog/am-i-right/202301/what-a-head-operation-under-a-tree-taught-me.