Foto: Bald ist die Ramadan-Fastenzeit zu Ende, da werden einige Schafe dran glauben müssen [1]
* * *
Günther Lanier, Ouagadougou 5.4.2023[2]
Der aus armen Verhältnissen stammende einstige Gerber, später gemäßigte Republikaner Félix Faure war Anfang der 1880er Jahre in Paris Staatssekretär für Koloniales. Mehrere Regierungsämter später wurde er im Jänner 1895 zum Präsidenten Frankreichs gewählt, eine Funktion, die er bis zu seinem Tod im Februar 1899 ausübte. In seiner Zeit an der Spitze des Staates setzte er sich insbesondere für eine Annährung zu Moskau ein. Die Beziehungen zu London hingegen litten unter der “Faschoda-Krise“ – Frankreich hatte versucht, vom Atlantik bis zum Roten Meer eine ununterbrochene Reihe von Kolonien einzurichten, während Großbritannien dasselbe Ziel nord-süd verfolgte, vom Mittelmeer zum Kap der Guten Hoffnung. Diesen Wettlauf hatte eigentlich Paris gewonnen, in Faschoda am Weißen Nil im heutigen Südsudan wehte die französische Flagge. Doch sie musste – entgegen der bei der Berliner Konferenz für Afrikas Aufteilung unter den Kolonialmächten vereinbarten Regeln – angesichts der militärischen Übermacht der britischen Fahne weichen.
Die 1890er Jahre brachten einen Höhepunkt der kolonialen Expansion im verbliebenen unbesetzten Teil der Welt: Besagte Berliner Konferenz hatte einen Run auf Afrika (scramble for Africa) ausgelöst, mit Paris und London als Hauptproponenten, Lissabon, Berlin und Brüssel in der zweiten Reihe und mit Statistenrollen für Madrid und Rom (zu letzterem siehe meinen Artikel vom vergangenen Mittwoch[3]).
Senegal hatte im frankophonen Afrika eine Sonderstellung, es war früher kolonisiert worden. Die BewohnerInnen der “vier Gemeinden“ (quatre communes) Saint Louis, Gorée, Rufisque und Dakar genossen die Rechte französischer BürgerInnen – ein im afrikanischen Kolonialreich (auch im senegalesischen Hinterland) sonst selten zugestandenes Privileg, da waren die Einheimischen dem Eingeborenen-Code (Code de l’indigénat) unterworfen, somit UntertanInnen zweiter Klasse.
Im kolonialen Herzen Dakars – das Viertel heißt Plateau – gibt es eine Félix Faure-Straße. Sie verläuft vom Nationaltheater[4] im Westen (da ist auch die österreichische Botschaft nicht weit) Richtung Osten, wo sie nordöstlich des einstigen Gouverneur-, jetzt Präsidentenpalastes in die Küstenstraße mündet, quasi gegenüber der für das Verschiffen von SklavInnen berühmten Insel Gorée.
In dieser Félix Faure-Straße gibt es eine Buchhandlung, wohl die bekannteste der senegalesischen Hauptstadt, die heißt “4 Winde“ (Librairie Aux 4 Vents[5]).
Dort habe ich bei meinem letzten Senegal-Besuch 2021 ein Buch von Ken Bugul erstanden, das sich Rue Félix-Faure, also Félix Faure-Straße, nennt. Den Roman hat sie 2005 erstmals bei den Editions Hoëbeke in Paris veröffentlicht, 2021 ist er in Dakar bei Amalion neu herausgegeben worden.
In einem Gewirr kleiner Hinterhöfe wie diesem spielt ein großer Teil von Ken Buguls Roman [6]
Die Unerwünschte – das ist die Bedeutung des Pseudonyms Ken Buguls, das Mariétou Mbaye Biléoma für ihre schriftstellerische Tätigkeit verwendet – hat ihre Félix Faure-Straße Cesária Evora, Djibril Diop Mambety und Aminata Fall[7] gewidmet. Alle drei kommen in ihrem Buch auch vor, die 2011 verstorbene, weltberühmte kapverdische[8] Sängerin am wenigsten, allerdings singt die Romanfigur Drianké barfuß. Ebendiese Drianké ist der “Diva“ Aminata Fall nachempfunden, der “senegalesischen Mahalia Jackson“, die so wie die Drianké nie den großen Durchbruch geschafft hat, den sie eigentlich verdient hätte, ja Zeit ihres Lebens wenig aufgenommen hat[9]. Dass Ken Bugul gerade die Félix Faure-Straße für ihren Titel ausgesucht hat, liegt vielleicht daran, dass Aminata Fall nach ihrer Teilnahme an Senghors 1. Negerkunstfestival (1er Festival mondial des arts nègres) 1966 Mitglied des erwähnten Nationaltheaters wurde und aus ihrer Geburtsstadt St. Louis nach Dakar kam. Denn um Koloniales geht es in dem Buch nur sehr nebenbei.
Unter seinem eigenen Namen, meist zu Djib verkürzt, tritt nur Djibril Diop Mambety auf, ja das Buch betreibt geradezu einen Kult um den 1998 im Alter von 53 Jahren an Lungenkrebs verstorbenen Regisseur. Sein erster langer Film Touki Bouki ist 2023 ein halbes Jahrhundert alt – ich hoffe, dieser wunderbare Film, heute einer der absoluten Klassiker der afrikanischen Kinematographie, eine geniale Mischung aus Phantastischem und Dokumentarischem, wird ob dieses 50. Geburtstags vielerorts auf große Leinwände[10] projiziert werden. Sein Hauptthema Migration, versinnbildlicht durch den im Film immer wieder herumspukenden Refrain von Josephine Bakers Paris-Lied, das so gar nicht zum Kontext der senegalesischen Hauptstadt passt, ist ja aktueller denn je.
Paris, Paris, Paris,
das ist auf der Erde
ein Stückchen Paradies[11].
Übrigens spielt Aminata Fall in Touki Bouki mit – sie war auch Schauspielerin. In ihrer Rolle steht sie dem jungen, aus Mory und Anta gebildeten Paar zunächst feindlich gegenüber, verwandelt sich später, als sie ausschauen, als hätten sie Erfolg gehabt, zu ihrer griotte, ihrer Lobsängerin und -tänzerin.
Träume von Grandeur treiben vor allem Mory – den “Mann-Boss“ des Paares, wie er sich selbst einmal nennt[12] – und die will er mit Hilfe von Migration verwirklichen. Als er und Anta – die bis dahin eine vor allem auf Mitmachen beschränkte Rolle spielt – “du bist der Mann, was immer du sagst“ – die reale Chance auf eine Schiffspassage nach Frankreich haben (an der Seite eines völlig überzeichneten französischen Ehepaares), ist sie es, die den Traum verwirklicht. Er läuft zurück, verfolgt von Erinnerungen an die Rinder, die er zu Beginn des Films ins Schlachthaus getrieben hat, wohl um sich die Übersiedlung nach Dakar und sein zukünftiges Markenzeichen leisten zu können, ein Motorrad, dessen Lenkstange von den riesigen Hörnern eines der grausam umgebrachten Rinder geziert wird.
So schließt sich der Kreis der Gewalt. Als Abschlussbild dient nicht der erhabene Dampfer auf seiner Fahrt vor allem weg von Dakar, sondern eine kleine Dschunke, die das Bild rechts verlässt und wohl bald zurückkehren wird.
Private Vorführung von Touki Bouki im Afrikastudien-Zentrum Leiden [13]
Gegen Ende von Ken Buguls Félix Faure-Straße kommt Djib, also Djibril Diop Mambety, zum Thema Gott zu Wort. Es spielt im Buch ebenso wie im wirklichen Afrika ja eine große Rolle.
Keine Ahnung, ob das seinen Ansichten entsprach.
“Ich rede nicht gerne von diesem erfundenen Gott, diesem Gott, den die Leute überall mit sich herumschleppen, diesem geschmähten Gott, der in allen Saucen daherkommt. Ich will nichts hören über diesen Marionetten-Gott, den du an den meisten Orten des Gebetes antriffst. Ich will nichts hören über diesen Gott, der die einen foltert und die anderen in die Hölle wirft. Ich will nichts hören von diesem bedrohlichen Gott, der auf der Seite der einen ist, nicht aber auf der Seite der anderen. Ich will nichts hören von diesem Gott, den die falschen Mokadems[14] verwenden in ihrem ungesunden Streben nach Prestige, für ihren eigenen Geltungsdrang, ihr Eigeninteresse. Ich will nichts hören von diesem Gott, den Scharlatane und Zauberer benutzen. Ich will nicht reden hören von diesem Gott, dessen Name tausendfach ausgesprochen, rezitiert, heruntergeleiert und geflüstert wird, um sich zu bereichern, berühmt zu werden, damit sich Möglichkeiten auftun, mächtig zu werden, die einen oder die anderen zu beherrschen. Ich will nichts hören von diesem Gott, dessen sich falsche Mokadems und andere falsche Gurus und Propheten bedienen, um Männer und Frauen zu unterwerfen, auszubeuten, ihnen ihr Geld abzunehmen und dazu noch ihre Würde. Ich will nichts hören von diesem von falschen Mokadems und neuen Propheten, denen es an Persönlichkeit mangelt, zu persönlichem Nutzen benutzten Gott. Ich will nichts hören von diesem Gott, der dazu verwendet wird, die einen oder anderen zu verachten. Ich will nicht von diesem Gott reden hören, der für Unzucht (…), Laster, Hass, Verachtung, psychische und physische Gewalt missbraucht wird.“[15]
In Ken Buguls Roman geht es um Gewalt gegen Frauen und zwar um die innerhalb von “Liebes“beziehungen – oft Ehen – ausgeübte Gewalt eines Mannes über (s)eine Frau. Dabei dient ihr der “Mokadem“, der über seine vom Patriarchat gewährte Autorität und Macht als (Ehe)Mann hinaus auch noch die spirituelle Gottesvertretungsmacht nutzt, um Frauen zu unterwerfen, ihren Willen zu brechen und sie auszubeuten. In immer wieder neuer, geringfügig veränderter Spielart kommen Frauen in der Félix Faure-Straße derart unter die Räder, unter vielen anderen Drianké und die Geliebte Djibs. Am ausführlichsten erzählt wird der ganze Prozess in einem überlangen Brief einer derart Gebrochenen, eigentlich Liebenden an ihren Peiniger (ein “Brief“, der Djib als Drehbuch dienen soll bis er ihn verliert, woraufhin er den LeserInnen stückchenweise vorgesetzt wird), der in nahezu unaushaltbaren, wohl überaus realistischen Wiederholungen den Teufelskreis an Gedanken und Gefühlen berichtet, der diese einst stolze und unabhängige Frau mehr und mehr zugrunde richtet.
Dem Drehbuch hat Djib den Titel “Rache“ gegeben.
Ken Bugul bei ihrem Vortrag “Migration und Politik in Afrika“ an der Brigham Young-Universität in Utah [16]
Diese Rache findet statt. Sie hat unmittelbar vor Einsatz des Romans stattgefunden. Da wird in der sonst so toleranten und friedlichen Félix Faure-Straße eines schönen Morgens ein in viele Teile zerschnittener großer Leprakranker[17] gefunden, seine kleinen Geschlechtsteile im Mund, auch die Augen herausgetrennt, diese sonderbar lebendig, als wollten sie die Geschichte zu Ende erzählen. Das Buch dient der Aufklärung dieses Geschehens – nein, es handle sich nicht um ein Verbrechen, vielmehr um eine Inszenierung, heißt es schon sehr früh. Am Buch-Ende erfahren wir, wie lang die Liste der von diesem Mokadem missbrauchten Frauen ist, die ihn kollektiv und jede für sich ermorden, Drianké allen anderen voran.
Die Morde hatte vielmehr er zuvor an den Frauen begangen oder zu begehen versucht.
* * *
Was mir zu den “falschen Mokadems“ und zusätzlich zu der in Ken Buguls Roman behandelten privaten, beziehungsinternen Gewalt unweigerlich einfällt, ist der Missbrauch Gottes im Rahmen terroristischer Gewalt. Auch wenn das Problem nicht ausschließlich, wahrscheinlich nicht einmal hauptsächlich religiös bedingt ist: Für Burkina Faso wurde gestern von der zuständigen staatlichen Agentur CONASUR bekanntgegeben, dass sich die Zahl der Binnenflüchtlinge im Land mit Ende Februar 2023 auf 1.999.127 erhöht hat, das ist ein knappes Zehntel der Bevölkerung und um 60.335 oder 3,11% mehr als Ende Jänner 2023.
Es ist fast schon eine Binsenweisheit, dass Frauen und Mädchen unter den Flüchtlingen in erhöhtem Ausmaß sexueller und sonstiger geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt sind.
Ken Bugul bei der Diskussion “Die Frau – ein Roman“ im Salon du livre (“Büchersalon“, Frankreichs größte Buchmesse) in Paris 2010 [18]
* * *
Endnoten:
[1] In einer Querstraße zur Félix Faure-Straße, Dakar. Foto GL Juli 2021.
[2] Petra Radeschnig gilt – wie stets – mein herzlicher Dank fürs Lektorieren!
[3] Günther Lanier, Römische Wiederbetätigung, Ouagadougou (Africa Libre) 28.3.2023, https://www.africalibre.net/artikel/498-romische-wiederbetatigung bzw. Wien (Radio Afrika TV) 29.3.2023, https://radioafrika.net/romische-wiederbetatigung/.
[4] Théâtre national Daniel-Sorano.
[5] Siehe https://web.facebook.com/Librairieaux4Vents/?locale=fr_FR&_rdc=1&_rdr.
[6] Die Rue Félix Faure läuft – unsichtbar – im Hintergrund des Fotos von links nach rechts. Das Haus hinter dem linken großen Baum dürfte in der oder nahe zur Félix Faure-Straße stehen. Foto GL Juli 2021.
[7] Nicht zu verwechseln mit der Schriftstellerin Aminata Sow Fall.
[8] Die Kapverdischen Inseln sind zwar ein unabhängiger Staat, sind aber dem “Grünen Kap“ und seiner Halbinsel vorgelagert, auf der Dakar liegt – und tragen schließlich auch den Namen des Kaps. Im Roman hat die Félix Faure-Straße viele kapverdische BewohnerInnen, einer von ihnen, Tonio, und seine verstorbene Frau und Tochter spielen wichtige, obwohl nicht ganz zentrale Rollen.
[9] Offenbar gibt es nur ein Album, das ausschließlich ihren Liedern gewidmet ist: Kan Fore aus 1995. Diese Lieder sind am Netz anhörbar, z.B. das titelgebende Kan Fore auf https://www.youtube.com/watch?v=CUL14GJCSYM.
[10] Was Bildschirmprojektionen betrifft, ist er von 18:43 bis 100:42 (Einleitung und Schlusswort sind verzichtbar) auf https://web.facebook.com/watch/live/?ref=watch_permalink&v=783689625519922 besichtigbar.
[11] Im Original “Paris, Paris, Paris,/c’est sur la terre/un coin de paradis“, anhörbar z.B. auf https://www.youtube.com/watch?v=NqFqpAAP94A.
[12] Der Film ist auf Wolof. Ich übersetze (aus der Erinnerung) die englischen Untertitel: “man-boss“ und in der Folge “you’re the man – whatever you say“.
[13] Ich war sehr überrascht, dass es – trotz seines Renommees – von Djibril Diop Mambety kein gemeinfreies Foto gibt. Auch von Touki Bouki gibt es nur zwei – das zweite ist sehr ähnlich, ist von derselben Veranstaltung. Foto Hansmuller 9.3.2023, zugeschnitten GL, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:ASC_Leiden_-_Touki_Bouki_film_screening_2023_-_Screen_-_1.jpg.
[14] Es handelt sich um einen zentralen Begriff in Ken Buguls Buch. Ein Mokadem ist eine Art Scheich, der Vorstand einer Gemeinschaft von Gläubigen, die im senegalesischen Kontext freilich zunächst islamisch zu denken ist, obwohl er im Sinn der Autorin auch allgemein mit Sektenchef übersetzt werden könnte. In einer anderen Verwendung haben Mokadems eine niedrigrangige administrative Funktion, aber das ist nicht gemeint.
[15] Ken Bugul, Rue Félix-Faure, Dakar (Amalion) 2021 (© 2005), p.245. Übersetzung GL.
[16] Auch von Ken Bugul gibt es nur fünf gemeinfreie Fotos, die bei nur zwei Anlässen aufgenommen wurden. Foto Ben P L 28.2.2018, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ken_Bugul_(27288217938).jpg.
[17] Die Lepra-Erkrankung ist wohl als von Gott auferlegte Strafe zu interpretieren. Handelte es sich nicht um einen Mokadem, könnten wir das für ein bisschen dick aufgetragen halten. Aber Realismus ist Ken Buguls Problem nicht.
[18] Foto Georges Seguin 28.3.2010, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ken_Bugul_20100328_Salon_du_livre_de_Paris_2.jpg.