aus dem Buch “die Romantik der Südsee“ aus 1906 [1]
Günther Lanier, Ouagadougou 4. September 2024[2]
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Was haben die Westsahara und Neukaledonien gemeinsam?
Sie werden beide von der UNO als Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung geführt[3].
Was Frankreich betrifft, so vorenthält es der pazifischen Inselgruppe Neukaledonien weiterhin die Unabhängigkeit, führt es als Collectivité sui generis und hat es kürzlich straffer an die Kandare genommen – ist dabei überaus brutal vorgegangen. Und seit kurzem unterstützt Paris Rabat auch offiziell bei dessen fortgesetzter unrechtmäßiger Besetzung der Westsahara[4] – wohl nach dem Motto ein Kolonialherr hilft dem anderen.
Auf dem afrikanischen Kontinent gibt es laut Einschätzung der UNO keine unrechtmäßig fortbestehenden Reste des französischen Kolonialreiches mehr (Mayotte, Réunion und die Iles Eparses[5] sind sozusagen aus freiem Willen französisch). Das Pariser Verhalten in seinen afrikanischen Ex-Kolonien kann somit nur als Neokolonialismus charakterisiert werden – der kommt immer schlechter an, wie über die letzten paar Jahre insbesondere im zentralen Sahel mehr als deutlich geworden ist.
Dass ich im heutigen Artikel einen Ausflug in eine von Afrika weit entfernte Gegend mache, ist der Tatsache geschuldet, dass sich in letzter Zeit mit großer Klarheit zeigt, wie wenig sich außerhalb Europas die Pariser Herrschaftsmethoden geändert haben. Nach der Einleitung übersetze ich zu diesem Behuf eine Presseerklärung von vier UNO-ExpertInnen vom 20. August 2024 – trotz der oft gestelzten Sprache ist sie von großer Klarheit.
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Neukaledonien[6] liegt etwas 1.500 km östlich von Australien, die 19.103 km2 große[7] Inselgruppe wird von “Grand Terre“ (Große Erde) dominiert, sie allein hat 16.750 km2 und hier lebt die große Mehrheit der Bevölkerung, die sich zur Kommunikation in erster Linie kanakischer Sprachen bedienen[8] Diejenigen, die sich für die Loslösung von Frankreich einsetzen, nennen die Inselgruppe “Kanaky“. Auf der passatzugewandten Nordostseite von Grand Terre fällt sehr viel mehr Niederschlag als auf der Südwestküste, an der auch die Hauptstadt Nouméa mit ihren etwa 100.000 BewohnerInnen liegt, nahe der Südspitze der schlanken, etwa 400 km langen Insel.
Vom seit ungefähr 3.500 Jahren von Menschen besiedelten Kanaky oder Neukaledonien weiß Europa erst seit 1774, als James Cook auf seiner zweiten Südseereise dort vorbeikam. 1793 tat es ihm der französische Seefahrer Joseph Bruny d’Entrecasteaux gleich. Die ersten EuropäerInnen, die sich auf den Inseln niederließen, waren Walfänger und Sandelholzhändler, dann kamen MissionarInnen, sie alle schleppten Krankheiten ein, die einen guten Teil der Insel-BewohnerInnen umbrachten. Am 24.9.1853 wurde Neukaledonien dann im Namen Napoleons III. in französischen Besitz genommen.
bei der Pariser Kolonialausstellung 1931 ausgestellte Kanaken [9]
Aufstände gegen Frankreich gab es zuhauf, einen der größten 1878. Am 27.10.1946 wurde Neukaledonien zum Übersee-Département, 2003 zur collectivité sui generis (Gemeinschaft eigener Art). Die Auseinandersetzung um die Unabhängigkeit ging weiter. Immer wieder gab es Tote und zwar nicht wenige.
Zusätzlich zu der aus seiner Lage resultierenden geostrategischen Bedeutung verfügt Kanaky über riesige Nickel-Vorkommen, es ist weltweit der viertgrößte Produzent[10]. Da dieses Metall jenseits von Rostschutz und Edelstahl wegen seiner Verwendung beim Herstellen von Nickel-Kadmium- und auch Lithium-Ionen-Batterien noch an Bedeutung gewonnen hat, wird das Pariser Interesse an der Herrschaft über seine pazifische sui generis-Gemeinschaft kaum nachlassen.
Ähnlich wie in der Westsahara steht im Brennpunkt des Streites, wer an Referenden über die Unabhängigkeit von Frankreich teilnehmen darf. Laut Nouméa-Abkommen vom 5.5.1998 waren nur diejenigen stimmberechtigt, die schon 1998 im Wahlregister standen – plus ihre Kinder. Nun hat das französische Parlament diese Beschränkung im Mai 2024 wegen angeblicher Verfassungswidrigkeit aufgehoben – ab sofort würden auch andere auf der Inselgruppe Geborene sowie seit mindestens zehn Jahren ansässige Zugezogene stimmberechtigt sein. Daraufhin kochte der separatistische Kessel über.
Eine strittige Bilanz der Unruhen der zweiten Mai-Hälfte[11] – schon die UNO-ExpertInnen zitieren andere Zahlen – zählt 11 Tote (darunter 2 PolizistInnen), 486 Verletzte aufseiten von Polizei und Gendarmerie[12], eine unbekannte Zahl Verletzter auf der Gegenseite, 2.343 Verhaftete sowie Schäden in Höhe von 2,2 Mrd. Euro – unter anderem sollen 900 Unternehmen und 200 Häuser zerstört und 600 Fahrzeuge angezündet worden sein.
Am 28. Mai 2024 wurde der von Paris dreizehn Tage zuvor verhängte Ausnahmezustand wieder aufgehoben.
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Erklärung der UNO-ExpertInnen[13] zu den Rechten der autochthonen kanakischen Völker im nicht-autonomen Territorium Neukaledonien und der Vereinbarung von Nouméa[14]
Die Lage im nicht-autonomen Territorium Neukaledonien bleibt extrem volatil und unsicher. Wir sind sehr besorgt ob des Fehlens eines Dialogs, der übermäßigen Anwendung von Gewalt, dem beständigen Aufgebot militärischer Kräfte und den anhaltenden Berichten von Menschenrechtsverletzungen, die gegen tausende autochthone Kanaken verübt worden sind, weil sie seit Mai 2024 an Kundgebungen teilgenommen haben.
Nach von uns erhaltenen Informationen sind mindestens 6 kanakische DemonstrantInnen getötet und 169 andere verletzt worden. Über 2.235 DemonstrantInnen sind verhaftet und viele darunter willkürlich gefangen gehalten und Dutzende unter ihnen nach Festlandfrankreich deportiert worden. 500 kanakische Personen sollen Opfer von erzwungenem Verschwinden[15] geworden sein. Darüber hinaus gibt es Informationen, die auf eine Kriminalisierung von kanakischen MenschenrechtsverteidigerInnen durch die missbräuchliche Anwendung von Strafrecht hindeuten.
Der Mangel an Zurückhaltung bei der Anwendung von Gewalt gegen die kanakischen DemonstrantInnen und die ausschließlich repressive und gerichtliche Behandlung eines Konfliktes, bei dem ein autochthones Volk sein Recht auf Selbstbestimmung einfordert, ist nicht nur anti-demokratisch, sondern außerdem zutiefst beunruhigend, was Rechtsstaatlichkeit betrifft. Wie es die Resolution 2625 der Generalversammlung (der UNO, GL) einmahnt: “Die Staaten haben die Pflicht, auf Vergeltungsakte zu verzichten, die Gewaltanwendung einschließen. Jeder Staat hat die Pflicht, vom Gebrauch jeglicher Zwangsmaßnahme Abstand zu nehmen, welche die erwähnten Völker ihres Rechtes auf Selbstbestimmung, auf Freiheit und Unabhängigkeit berauben würde beim Formulieren des Prinzips der Gleichheit des Rechtes und ihres Rechtes, über sich selbst zu bestimmen.“[16]
Wir sind uns bewusst, dass manche DemonstrantInnen Gewaltakte begangen und privaten und öffentlichen Besitz beschädigt haben. Jedoch sind die angewandten Mittel, die Schwere der gemeldeten Gewalt, die Intensität der Repression und der rassistische und diskriminierende Charakter mancher Gewaltakte ebenso wie die Zahl der Toten und Verletzten, der Festnahmen und willkürlichen Verhaftungen und von erzwungenem Verschwinden alarmierend.
Was uns besonders beunruhigt sind die Vorwürfe rassistischer Gewalt von bewaffneten Milizen, die den Tod von 3 kanakischen DemonstrantInnen verursacht haben. Die französische Regierung muss Maßnahmen ergreifen, um die Gewaltakte zu untersuchen, die bei den Demonstrationen begangen worden sind, und muss die, die sie begangen haben, vor Gericht stellen. Es sind sofort Maßnahmen zu ergreifen, um diese bewaffneten Milizen aufzulösen.
Wir sind ebenfalls beunruhigt, dass eine Entwicklung in Gang ist, die auf den Versuch hinweist, das Abkommen von Nouméa zu zerschlagen, das eine Roadmap für den Prozess der Dekolonisierung darstellt. Die Volksbefragung zur Souveränität Neukaledoniens wurde am 16. Dezember 2021 inmitten der Covid-Epidemie abgehalten, zudem mitten in einer vom kanakischen Volk begangenen Trauerzeit und trotz des Widerstands von Autoritäten und traditionellen kanakischen Organisationen. Die Volksbefragung war gekennzeichnet von einer außergewöhnlichen Enthaltungsrate von über 43%, welche die Legitimität der Befragung in Frage stellt. Das französische Parlament hat am 14. Mai 2024 ein Gesetz beschlossen, das die Wahlberechtigung änderte, womit eines der Fundamente des Abkommens von Nouméa abgeschafft wurde, das gerade im Einfrieren der Wahlberechtigten Neukaledoniens bestand. Im Oktober 2023 wurde eine weitere Gesetzesvorlage ausgearbeitet, das “Marty“-Projekt, das andere Haupterrungenschaften des Nouméa-Abkommens eliminiert hätte, welche die Anerkennung der Identität und der autochthonen kanakischen Institutionen, des Gewohnheitsrechtes und des traditionellen kanakischen Landrechtes betreffen.
Offensichtlich wurden die fundamentalen Rechte auf Teilnahme, Konsultation sowie freie und aufgeklärte vorherige Einwilligung des autochthonen kanakischen Volkes und der traditionellen kanakischen Institutionen bei keinem dieser Vorgänge respektiert. Außerdem bedeutet der Versuch des Liquidierens des Nouméa-Abkommens – eines Abkommens, das nach Jahren blutiger Konflikte, bei denen mehr als 90 Personen starben, für Frieden sorgte – ein Antasten der Integrität der Gesamtheit des Dekolonisierungsprozesses.
Wir ersuchen die französische Regierung inständig, schnell einen Dialog mit dem Dekolonisierungsspezialkomitee und den traditionellen kanakischen Institutionen zu beginnen, um eine friedliche Konfliktlösung zu finden. Im Interesse der Rechtssicherheit und des Respekts der Menschenrechte des autochthonen kanakischen Volkes, insbesondere seines Rechtes auf Selbstbestimmung, ist die französische Regierung verpflichtet, das Prinzip der Unumkehrbarkeit des Nouméa-Vertrages zu respektieren, welches in Übereinstimmung mit der von Frankreich aufgrund von Artikel 5 eingegangenen Verpflichtung mittels Verfassung zu schützen ist bis das Territorium die volle Souveränität erlangt. Wir haben erfahren, dass nach den französischen Parlamentswahlen der Gesetzesentwurf; der die Wahlberechtigung neu regelt, suspendiert worden ist – wir verlangen aber seinen vollständigen Widerruf.
UrlauberInnenparadies? Blick vom 1,43 km2 kleinen Brosse-Inselchen auf Kunyié (Ile des Pins/Pinien-Insel), das circa 50 km südöstlich von Grande Terre liegt [17]
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Endnoten:
[1] Foto Clement Lindley Wragge o.D., jendefalls vor 1906. Das Buch The Romance of the South Seas ist 1906 bei Chatto & Windus erschienen; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Wayside_Scene,_New_Caledonia,_c._1906.jpg.
[2] Petra Radeschnig gilt – wie stets – mein herzlicher Dank fürs Lektorieren!
[3] Siehe Günther Lanier, Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung – nach wie vor kolonisierte Gebiete, Ouagadougou (Africa Libre) 3.7.2024, https://africalibre.net/artikel/579-hoheitsgebiete-ohne-selbstregierung bzw. Wien (Radio Afrika) 3.7.2024, https://radioafrika.net/hoheitsgebiete-ohne-selbstregierung-nach-wie-vor-kolonisierte-gebiete/.
[4] Emmanuel Macron schrieb das in einem Brief an den marokkanischen Monarchen Mohammed VI aus Anlass von dessen 25. Thronbesteigungsfest am 30.7.2024. Siehe z.B. RFI, Sahara occidental: «Son présent et son avenir s’inscrivent dans le cadre de la souveraineté marocaine», affirme la France, RFI 30.7.2024, https://www.rfi.fr/fr/afrique/20240730-sahara-occidental-son-pr%C3%A9sent-et-son-avenir-s-inscrivent-dans-le-cadre-de-la-souverainet%C3%A9-marocaine-affirme-la-france.
[5] Mayotte und Réunion sind französische départements d’outre-mer (Übersee-Départements), die westlich von Madagaskar gelegenen Iles Eparses gehören seit 2007 als fünfter Distrikt zu den Terres australes et antarctiques françaises (französische Süd- und Antarktisgebiete).
[6] Caledonia war der lateinische Name Schottlands; Neukaledonien wurde früher auf Deutsch auch Neuschottland genannt. Der Name geht auf James Cook zurück – dessen Vater war Schotte.
[7] Das entspricht ziemlich genau der Fläche Niederösterreichs.
[8] Das “Neukaledonisch“ im Artikel-Titel meint keine Sprache.
[9] Foto Stadt Paris 6.5.1931, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kanak_1931_Paris.jpg.
[10] Zahlen zu Nickel-Produktion und -Exporten schwanken von einer Quelle zur nächsten stark. Ich berufe mich auf die kanadische Regierung – Kanada verfügt auch über bedeutende Nickel-Vorkommen. Siehe https://natural-resources.canada.ca/our-natural-resources/minerals-mining/mining-data-statistics-and-analysis/minerals-metals-facts/nickel-facts/20519#L2.
[11] Auch für Details zum Hergang usw. siehe französisches Wikipedia, Émeutes de 2024 en Nouvelle-Calédonie, https://fr.wikipedia.org/wiki/%C3%89meutes_de_2024_en_Nouvelle-Cal%C3%A9donie, konsultiert am 28.8.2024.
[12] Diese Zahl beruht auf offiziellen Angaben.
[13] Die ExpertInnen: Jose Francisco Cali Tzay, Sonderberichterstatter für die Rechte indigener Völker; Gina Romero, Sonderberichterstatterin für die Freiheit friedlicher Versammlung und Vereinigung; Ashwini K.P., Sonderberichterstatterin für zeitgenössische Formen von Rassismus, Rassendiskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und damit zusammenhängender Intoleranz; Irene Khan, Sonderberichterstatterin zum Schutz des Rechts auf freie Meinungsäußerung.
[14] Im französischen Original herunterladbar auf https://www.ohchr.org/fr/press-releases/2024/08/france-un-experts-alarmed-situation-kanak-indigenous-peoples-non-self. Übersetzung GL. Afrique XXI hat meine Aufmerksamkeit auf diese UNO-ExpertInnen-Erklärung gelenkt – siehe Afrique XXI, Colon un jour…, Afrique XXI 23.8.2024, https://afriquexxi.info/Colon.
[15] Verschwindenlassen ist ein anderer deutscher Ausdruck für “disparitions forcées“ (auf Englisch “enforced disappearances“).
[16] Zwischen den beiden Sätzen befindet sich im Original der UNO-Resolution 2625 aus 1970 ein Absatz. Der zweite Satz ist tatsächlich so kompliziert verschlungen. GL.
[17] Foto Pauline LE CAM 27.8.2018, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:%C3%8Elot_Brosse_Nouvelle-Cal%C3%A9donie_2.jpg.