Grand Bassam: ein Beispiel für Frankreichs touristisch konsumierbare koloniale Vergangenheit [1]
* * *
Günther Lanier, Wien 5. Juni 2024[2]
* * *
René Vautier hat 1950 als Einundzwanzigjähriger einen Film gedreht, der sich ausgezeichnet als Kontrastprogramm zur offiziellen französischen kolonialen Selbstdarstellung eignet. Der Film heißt “Afrique 50“ und kann unter https://www.youtube.com/watch?v=j11ez5BQmD4&t=1458s aufgerufen werden.
Dort präsentiert der leicht gealterte Regisseur für das algerische Fernsehen seinen Film, der in Frankreich bis 1996 nicht aufgeführt werden durfte und der ihm einst eine einjährige Gefängnisstrafe eingetragen hatte.
Von der “Französischen Bildungsliga“ (Ligue française de l’enseignement) hatte Vautier den Auftrag erhalten, einen Dokumentarfilm über die Lebensbedingungen in den französischen Kolonien anzufertigen. Dieses Abenteuer ließ er sich nicht entgehen.
Mit den kolonialen Autoritäten war er bald so gründlich über Kreuz, dass er sich vor ihnen verstecken musste. Als er statt wie geplant nach zwei Monaten schließlich nach einem Jahr nach Frankreich zurückkehrte, wurde sein ganzes ordnungsgemäß am Sitz der Französischen Bildungsliga abgeliefertes Filmmaterial dort beschlagnahmt. Doch es gelang ihm, etwa ein Viertel der Filmrollen zu retten – also zu entwenden – und somit vor der Vernichtung zu bewahren.
Die Kolonialmacht hatte ganz offensichtlich eine Heidenangst, dass die bei der Zivilisierung ihrer indigenen UntertanInnen angewandten, wenig zimperlichen Methoden allzu weithin bekannt würden.
Mit dem gestohlenen oder wiederangeeigneten Material hat Vautier den “Afrika 50“-Film montiert.
Der gut zwanzigminütige Film gewann beim Weltjugendfestival in Warschau 1950 den Preis für den besten Dokumentarfilm (Jury-Vorsitzender Joris Ivens) und dieses Oeuvre sollte der Ausgangspunkt einer überaus produktiven Dokumentarfilmer-Karriere sein: Als René Vautier 2015 starb, hinterließ er 150 Werke (darunter mehrere zu Algerien).
Für diejenigen unter Ihnen, die kein Französisch verstehen, übersetze ich in der Folge einen Großteil des Filmtextes. Zusätzlich zu den beeindruckenden Schwarz-weiß-Bildern verleihen die Worte dem Werk gerade in ihrer eher naiven Einfachheit eine Frische, die in heutigen Filmen kaum mehr so ungebrochen möglich wäre.
Genießen Sie also!
indigene ländliche Idylle [3]
* * *
Der Film beginnt am Fluss Niger, im heutigen Mali, zeigt zunächst neugierige Buben, dann Vorbereitungen für eine Hochzeit, dann Hirse stampfende Frauen und anderen Alltag fernab der Kolonialherren. Deren Schulen kommen im Text als Abwesende vor – sie gibt es nur, wenn die Kolonialadministration oder französische Unternehmen Personal brauchen, von dem mehr als physische Arbeit ausgebeutet werden soll. Nach gut sechs Minuten solch friedlicher Szenen – wenn auch in Armut, wie der Film betont – ändert sich der Fokus.
Ab sofort zitiere ich den Film-Sprecher.
“Schau dir an, was afrikanischen Dörfern droht. Hier befand sich das Dorf Palaka in der nördlichen Côte d’Ivoire. Der Dorfchef konnte einen letzten Rest der Steuern nicht zahlen: 3.700 Francs. Am 27. Februar 1949 um 5 Uhr Früh kamen die Truppen, umstellten das Dorf, schossen, brannten nieder, töteten. (Trommelwirbel)
Hier wurde der Dorfchef Sikali Ouattara ausgeräuchert und mit einer Kugel in den Nacken niedergestreckt, mit einer französischen Kugel. (Trommelwirbel/Patronenhülsen). Hier wurde ein 7 Monate altes Kind mit einer französischen Gewehrkugel getötet, die ihm den Kopf vom Körper riss. Hier ist die Mauer voller Blut, da starb eine schwangere Frau an französischen Kugeln in den Bauch. Unter dieser afrikanischen Erde liegen vier Leichen, drei Männer und eine Frau – ermordet in unserem Namen, Ihr Leute aus Frankreich!
Wundert euch das, die niedergebrannten Häuser, ihre massakrierten BewohnerInnen und die getöteten Tiere, die in der Sonne verrotten? Es entspricht nicht dem offiziellen Bild der Kolonialisierung.
Freund, Freundin, hier wie überall bedeutet Kolonialisierung die Herrschaft der Aasgeier. Und die Geier, die sich Afrika untereinander aufteilen, heißen Société de l’Ouest Africain, 650 Millionen (Francs) Gewinn im Jahr 1949, Compagnie Française de l’Afrique Occidentale, 365 Millionen Gewinn 1949, Davum 180 Millionen Gewinn, Compagnie du Niger Français[4], la Compagnie Française de la Côte d’Ivoire, da ist noch der angelsächsische Trust UNIL[5] 11,5 Milliarden Gewinn in nur einem Jahr, 40 Millionen, die tagaus tagein den AfrikanerInnen gestohlen werden – und im Tausch dafür haben diese Missionare des Handels in Afrika den Fortschritt eingeführt.
Der Fortschritt.
Hier die berühmte Niger-Staumauer von Markala-Sansanding. Eine Turbine liefert den Strom für die Häuser der Weißen. Aber um die Schleusen zu öffnen, wenn die großen Boote der Kolonialunternehmen durchfahren, gibt es keinen Strom. Denn der Schweiß der Schwarzen kostet nur 50 Francs am Tag, das kommt billiger als das Einrichten und das Warten einer Turbine.
Es scheint, dass es jenseits der Meere Dampfwalzen gibt, das sind überaus nützliche Maschinen für den Straßenbau. Aber in Afrika braucht es keine Dampfwalzen. Die Schwarzen kommen billiger. (Schwarze zerkleinern mit Hämmern Steine)
In den Hirsefeldern, in den Baumwollfeldern, in den Erdnussfeldern arbeiten schwarze Frauen, schwarze Kinder. Während die Gewinne in die Höhe schießen.
Die Ausrüstung verbessern? Wozu denn! Eine Maschine könnte die Arbeit von zwanzig Schwarzen machen? Freilich. Aber zwanzig Schwarze à 50 Francs pro Tag kommen billiger als eine Maschine. Also bedienen wir uns der Schwarzen!
Übrigens ist der Schmied nie weit, der die Geräte repariert und neue herstellt. Und seine Söhne können ihm helfen. Die Schule? Um den Blasbalg 16 Stunden am Tag zu bedienen, braucht einer doch nicht lesen und schreiben zu können!
Die Schwarzen arbeiten auch in den Plantagen. Die Schwarzen arbeiten im Wald. Für 50 Francs am Tag.
Die Reichtümer Afrikas türmen sich auf. Ein malisches[6] Sprichwort sagt: Wenn der Mistkäfer seine Kugel rollt, dann plagt er sich – aber mit ihr füllt er seine Vorratskammer.
Wenn sich die Schwarzen unter der afrikanischen Sonne plagen, dann ist das immer, um die Panzerschränke der riesigen Kolonialunternehmen zu füllen. Dann ist das immer, um die Bäuche dieser Schiffe zu füllen, die da warten, die darauf warten, sich aller Säfte Afrikas zu bemächtigen.
Hier braucht der Herr Administrator für sein Haus gerade Fenster- und Türflügeln. (Bilder von Schwarzen, die solche über ihren Köpfen tragen) Aber doch nicht auf dem Kopf! Der Kopf eines Schwarzen ist schmutzig, zu schmutzig für die Tür- und Fensterflügel eines Administrators. Mit gestreckten Armen!
Und gefälligst schneller!
Ein Lastkahn eines französischen Unternehmens ist auf eine Sandbank aufgelaufen. Da braucht es keinen Schlepper, um ihn wieder klar zu kriegen. Die Neger sind billiger als das Dieselöl für den Schlepper.
Ertrinkt einer oder wird einer von einem Krokodil gebissen, bekommt seine Witwe 500 Francs.
(Bilder von einem Schwarzen, der mit Hilfe einer Bambusstange einen Lastkahn voranbringt). Sich mit Bambusstangen abrackern für 50 Francs am Tag…
Seit 1946 ist Zwangsarbeit in Schwarzafrika abgeschafft, aber die Steuern sind bar zu begleichen und ihr (gemeint sind die FilmzuschauerInnen) habt gesehen, wie die Dörfer behandelt werden, die ihre Steuern nicht vollständig zahlen können. Um zu Geld zu kommen, gibt es nur das eine Mittel: für ein Kolonialunternehmen arbeiten, für 50 Francs am Tag.
Und so bedienen die Schwarzen die Bambusstangen, die auf ihren Flüssen die Baumwollladungen dahingleiten lassen – ohne selbst Hoffnung auf Kleidung zu haben; die Kakaoladungen ohne Hoffnung, je Schokolade zu schmecken; Erdnussladungen ohne Hoffnung auf deren Öl oder Seife; Mahagoniladungen ohne Hoffnung auf Möbel für ihre Hütten.
Da unten warten die Schiffe. Die großen Schiffe der Kolonialunternehmen warten in den frühen Morgenstunden, um dann loszufahren, vollgefüllt mit den Produkten der Erde der Neger, den Produkten der Mühen der Neger.
Aber schön langsam, von Dakar bis Brazzaville, von Abidjan bis Niamey, richten sich die Völker Afrikas auf, vereinigen sich, durchschauen die Ausbeutung und ihre Not, die Massenmorde.
Sich auf die französische Verfassung berufend, verlangen die Völker Afrikas, dass ihnen ihr von den Kolonialunternehmen gestohlenes Land zurückgegeben wird; verlangen, dass ihnen ihre Söhne zurückgegeben werden, die ihnen entrissen wurden, um ihre gelben Brüder[7] zu bekämpfen.
Die Völker Afrikas richten sich friedlich auf. Sie fordern, was ihnen zusteht.
Von Dakar bis Brazzaville, von Abidjan bis Niamey erheben die Völker Afrikas ihre Forderungen. Aber die Kolonialadministration (…) wird darauf antworten, wie sie es überall getan hat: mit Gewalt, mit dem Knüppel, mit Gefängnis, mit dem Gewehr (…), sie wird weiter den Ruin und den Tod säen – in unser aller Namen, Ihr Leute aus Frankreich!
(…) Die Völker Afrikas werden weiterkämpfen bis sie gewonnen ist, die Schlacht um ihr Leben.“
(Ende)
* * *
so gesittet und friedlich ging es in Westafrika unter französischer Herrschaft laut kolonialer Propaganda zu [8]
* * *
Endnoten:
[1] Eine von Wikimedias “Historischen Sehenswürdigkeiten in Grand Bassam“, Foto Adoscam 24.9.2023, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:WikiConvFr23_en_Cote_d%27Ivoire_visite_B%C3%A2timents_sites_historiques_de_Grand-Bassam_21.jpg.
[2] Petra Radeschnig gilt – wie stets – mein herzlicher Dank fürs Lektorieren!
[3] Dimbokro ist heute eine Stadt im Zentrum des Landes; auf dieser Postkarte wird es als Dorf bezeichnet, FotografIn unbekannt, aufgenommen zwischen 1909 und 1916, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Village_de_Dimbokro_(C%C3%B4te_d%27Ivoire).jpg.
[4] Der Sprecher sagt “L’Africaine Française du Niger“, während ein Schild mit “Compagnie du Niger Français“ im Bild erscheint. Ich habe am Netz keinerlei Africaine Française du Niger gefunden.
[5] Diesen Trust habe ich auch nicht am Netz gefunden.
[6] Damals hieß das heutige Mali allerdings noch “Sudan“.
[7] Viele afrikanische Soldaten/“senegalesische Schützen“ wurden im Vietnamkrieg eingesetzt.
[8] Grand Bassam, Rue de France, FotografIn unbekannt, aufgenommen ungefähr 1905, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Grand_Bassam_-_Rue_de_France_(Collection_L._Meteyer,_a_Grand-Bassam).jpg.