Foto: drei junge Fotografen im ABAPE-Zentrum [1]
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Günther Lanier, Ouagadougou 10. Juli 2024[2]
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Ich war eingeladen zur Foto-Ausstellung “L’autre regard“, “Der andere Blick“.
Mein überaus dynamischer Fotografenfreund Harouna Marané, dachte ich mir, lässt keine Möglichkeit aus, seine Kunst unter die Leute zu bringen.
Zur Vernissage Ende Juni war ich noch nicht zurück im Land, aber für die Ausstellung ging es sich aus. Letzten Freitag, am letzten Tag der Ausstellung, begab ich mich nach Wemtenga[3] zum Sitz der ABAPE, dem Ort der Handlung und der Ausstellung.
Ich wurde von einer der BetreuerInnen der autistischen Kinder des Zentrums freundlich aufgenommen. Doch groß war meine Verwunderung, als sie mir eröffnete, dass sich die Ausstellung auf die Vernissage am Samstag davor beschränkt hatte (“l’expo, c’était samedi!“, also “die Ausstellung, das war am Samstag!“). Gleich darauf seien die Fotos abgenommen worden. Sie würden in einem Raum des Zentrums verwahrt, da könnte ich sie im Prinzip auch anschauen, nur sei der Verantwortliche leider gerade nicht im Haus…
Einladung zur Ausstellung – dem Poster mangelt es im Vergleich dazu nur am Schriftzug “Invitation“ links
Die Sekretärin von ABAPE, zu der ich dann mitgenommen wurde, bestätigte all das, nachdem sie mich ausgiebig ausgefragt hatte, wer ich sei und warum ich die Fotos sehen wollte. Ich solle doch warten, der Verantwortliche sei unterwegs…
Das habe ich dann nicht getan, so etwas kann Stunden dauern. Ob ich später kommen könnte? Nein, das sei keine Lösung, der Verantwortliche könne ja nur auf einen Sprung vorbeischauen und schnell wieder weg sein.
Ich verstand nur Bahnhof. Eine Ausstellung, die statt einer Woche nur eine Vernissage lang dauert. Und dann ein solches Theater rund um die Erlaubnis, mir die Ausstellungsbilder unaufgehängt anzuschauen. Eine solch rigide Auslegung von Gehorsam gegenüber dem Chef entspricht zwar den ausgeprägten Hierarchien der Mossi (die etwa die Hälfte der Burkinabè stellen), in der Regel lässt sich in solchen Situationen aber bei genug Insistieren eine gütliche und beidseitig akzeptable Lösung finden. Was war hier faul?
Bilden Sie sich kein vorschnelles Urteil – die Auflösung des Rätsels findet sich weiter unten in diesem Artikel.
das Schild am Tor des ABAPE-Zentrums für autistische Kinder [4]
ABAPE steht für Burkinischer Verein zur psychologischen Begleitung und Hilfe für Kinder. Ort der Ausstellung, pardon: der Vernissage, war das Zentrum für die erzieherische Betreuung autistischer und geistig behinderter Kinder. Dazu ist anzumerken, dass es, was Psychiatrie und Psychologie betrifft, in Burkina einen großen Mangel gibt, noch um vieles ausgeprägter als im sonstigen medizinischen Bereich. Die Behandlung von Geisteskrankheiten besteht oft darin, dass die Betroffenen daheim eingesperrt oder sogar angekettet werden.
Insofern leistet der 2010 gegründete Verein ABAPE[5] also sehr wichtige Arbeit in einem sträflich vernachlässigten Bereich. Obwohl die Zahl der von Autismus Betroffenen nicht bekannt ist, kann davon ausgegangen werden, dass Prozentzahlen des Globalen Nordens eine ungefähre Größenordnung erahnen lassen: Dort liegt der Anteil zwischen 6 und 7 Promille. Umgelegt auf Ouagadougou ergibt das mindestens 12.000 mit Autismus Lebende[6].
“Die Merkmale des frühkindlichen Autismus zeigen sich bereits vor dem 3. Lebensjahr und in drei Bereichen besonders deutlich:
im sozialen Umgang mit Mitmenschen,
in der Kommunikation,
in sich wiederholenden und stereotypen Verhaltensweisen.“[7]
Autismus gibt es in hunderterlei Ausprägungen. Nicht alle Betroffenen bedürfen der Betreuung. Wenn behandelt wird, dann braucht jedeR einzelne eine individuell zugeschnittene Therapie. Sehr viele Kinder fallen aus dem üblichen Unterrichtsapparat heraus. Bei diesen setzt ABAPE an und bietet ihnen eine alternative Art der Erziehung und Bildung[8], wobei durchgehend die Eltern in die Therapie miteinbezogen werden. Es geht darum, den Kindern eine bessere Interaktion mit ihrer Umwelt zu ermöglichen, ihre kognitiven, sozialen und wenn möglich schulischen Kompetenzen zu verbessern.
Hierzu mit seiner Fotografie einen Beitrag zu leisten, dazu gab Harouna Marané der African Culture Fund die Möglichkeit[9]. Dieser Fonds finanziert innovative Kunst und Kultur jeder Art. Dazu ist anzumerken, dass auch Kunst und Kultur in Burkina sträflich vernachlässigte Bereiche sind, in Zeiten des Terrorismus und des resultierenden Gürtelengerschnallens noch mehr als zuvor.
Harouna ist ein erfahrener, vielseitiger, exzellenter und überaus rühriger Fotograf, der nicht nur in Burkina, sondern z.B. auch in Deutschland und erst jüngst in Frankreich gearbeitet und seine Werke gezeigt hat. In München hat er zur kollektiven Ausstellung über den 2014er Volksaufstand Fotos beigetragen. Ich habe ihm über die letzten Jahre schon mehrere Artikel gewidmet[10].
Das Projekt, das Harouna Mitte 2023 beim 13. Aufruf des African Culture Fund zum Einreichen von “Spécial Inclusion“(also “Spezial Inklusion“)-Vorschlägen unterbreitete, bestand aus einer zweiwöchigen Fotografie-Initiation für circa zwanzig autistische Kinder inklusive abschließender Vernissage und Ausstellung.
Unter den insgesamt 96 Einreichungen aus 14 afrikanischen Ländern war Harouna einer der 15 glücklichen Auserwählten[11].
Zu erwähnen ist, dass Harouna vor mehreren Jahren in einem Vorort von Ouagadougou schon ein Projekt mit Kindern umgesetzt hatte. Er hatte sie mit Wegwerfkameras ausgestattet und herauskam intendierterweise eine Dokumentation ihres Alltags.
Bei den autistischen Kindern – niemand wurde zur Ausbildungsteilnahme verdonnert, Freiwilligkeit ist ein Grundprinzip von ABAPE – ging es darum, die Fotoapparate als Mittel für Ausdruck und Kommunikation zu nutzen – das sind im Allgemeinen die Schwachpunkte von Menschen mit Autismus.
Das Anfertigen von Bildern von ihren FreundInnen und von Alltäglichem, das Fokussieren auf ihre Umwelt sollte ihnen helfen, sich ihrer eigenen Perspektive stärker bewusst zu werden.
Vermittels der Fotos sollten nicht nur Kreativität, Aufmerksamkeit und Achtsamkeit gefördert werden, sondern auch die Fähigkeit zur Kommunikation. Auf spielerische und durchaus künstlerische Art konnte so “richtiges“ Verhalten belohnt und “falschem“, also nicht gesellschaftsfähigem, entgegengewirkt[12] werden.
Bei alledem galt es, die “Arbeit“ im Team, also in der Gruppe, zu fördern.
Es ist Harouna jedenfalls gelungen, Interesse und Begeisterung der autistischen Kinder zu wecken. Ich kann ihnen leider das fünfminütige Video, das von der Vernissage angefertigt wurde, nicht in den Artikel stellen – dort wird aus den Fragen und Reaktionen der dichtgedrängten Kinderschar (die Eltern halten sich im Hintergrund) sehr klar, wie erfolgreich das Foto-Projekt gewesen ist.
Eine Möglichkeit für Sie, liebe LeserInnen, doch teilzuhaben, ist ein Artikel in La Tribune du Faso: Auch wer kein Französisch kann, wird von den Fotos dort profitieren.
Insbesondere die Mischung aus Freude und Stolz im Gesicht des Buben auf dem Titelbild dort kann, was das Selbst-Fotografierthaben betrifft, nicht lügen[13]. Harouna mit all seiner Kunst war nur Mittler.
Ein schönes Projekt! Merci Afrikanischer Kulturfonds! Dir, Harouna, herzliche Glückwünsche!
Und hier die versprochene Lösung des Rätsels vom Artikelanfang:
Dass die Fotos gleich nach der Vernissage abgenommen wurden, es also letztlich keine Ausstellung gab, ist zum einen nicht tragisch: Es ging nicht um die Anerkennung des künstlerischen Wertes der ausgestellten Fotos durch ein kunstinteressiertes Publikum, sondern es war alles für die Kinder und ihre Eltern. Und die waren bei der Vernissage schon auf ihre Kosten gekommen.
Bei der Vernissage aber hatte sich erwiesen, dass es unrealistisch war, die Fotos im Zentrum aufgehängt zu lassen. Die Kinder waren so begeistert von ihren Fotos – ob sie nun die FotografInnen oder die Fotografierten waren – dass sie die Fotos unbedingt haben wollten. Wären sie – im Zentrum für alle NutzerInnen zugänglich – aufgehängt geblieben, wären sie schnell von den Kindern abmontiert worden. Dem kamen die Leute von ABAPE – in Absprache mit Harouna – zuvor.
Ich hätte sie also so oder so am Freitag drauf nicht gesehen 😊.
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Endnoten:
[1] Alle Bilder meines heutigen Artikels wurden mir von Harouna Marané für den Artikel zur Verfügung gestellt.
[2] Petra Radeschnig gilt – wie stets – mein herzlicher Dank fürs Lektorieren!
[3] Ein Viertel im östlichen Zentralbereich der burkinischen Hauptstadt Ouagadougou.
[4] Die Übersetzung folgt im Text auf den Fuß. Screenshot des Bildes, mit dem Harounas knapp fünfminütiges Video über die Vernissage am Samstag, den 29. Juni 2024 beginnt.
[5] Siehe http://www.abapebf.org/, auf Facebook: https://web.facebook.com/abape.bf/?locale=de_DE&_rdc=1&_rdr.
[6] Zahlen von autismus Deutschland e.V.. Für Deutschland gibt es überraschenderweise auch keine Zahlen – die 6 bis 7 Promille beziehen sich auf Untersuchungen in anderen europäischen Ländern, in Kanada und in den USA. Siehe https://www.autismus.de/was-ist-autismus.html
[7] Siehe https://www.autismus.de/was-ist-autismus.html.
[8] Wo es möglich ist, wird eine Reintegration ins Schulsystem versucht.
[9] Auf Französisch Fonds Africain de la Culture. Siehe https://www.africanculturefund.net/.
[10] Günther Lanier, Fotografische Reise ins Obervolta rund um die Unabhängigwerdung oder Der Fotograf als Archivar, Ouagadougou (Africa Libre) 18.1.2023, https://www.africalibre.net/artikel/483-fotografische-reise-ins-obervolta-rund-um-die-unabhaengigwerdung bzw. Wien (Radio Afrika TV) 18.1.2023, https://radioafrika.net/fotografische-reise-ins-obervolta-rund-um-die-unabhangigwerdung/.
GL, “Ein Fotoapparat ist stärker als ein Maschinengewehr – seid vorsichtig, wie ihr ihn verwendet.“ Harouna Maranés Foto-Version eines nationalen Mythos, Ouagadougou (Africa Libre) 8.6.2022, https://www.africalibre.net/artikel/444-ein-fotoapparat-ist-starker-als-ein-maschinengewehr bzw. Wien (Radio Afrika TV) 8.6.2022, https://radioafrika.net/ein-fotoapparat-ist-starker-als-ein-maschinengewehr-seid-vorsichtig-wie-ihr-ihn-verwendet-harouna-maranes-foto-version-eines-nationalen-mythos/.
GL, Die Unabhängigkeit der Kunst. Oder: Wer braucht schon ein Thema? Ouagadougou (Africa Libre) 3.11.2021, https://www.africalibre.net/artikel/109-die-unabhangigkeit-der-kunst
GL, Das Leben hinter den Masken. Harouna Marané in Ouagadougou, als es noch Angst vor “der Krankheit“ gab, Ouagadougou (Africa Libre) 2.12.2020, https://www.africalibre.net/artikel/182-das-leben-hinter-den-masken-oder-harouna-marane-als-es-noch-angst-vor-der-krankheit-gab,
GL, Den Blick brechen. Fotografieren gegen Vorurteile, Ouagadougou (Africa Libre) 12.6.2018, https://www.africalibre.net/artikel/323-den-blick-brechen-oder-fotografieren-gegen-vorurteile.
Was die Ausstellung zum Volksaufstand von Ende 2014 bzw. den sie begleitenden Katalog betrifft siehe GL, Fotos aus dem Land der Integren: Peter Stepan (Hg.), Der Volksaufstand in Burkina Faso, Oktober 2014. Für eine gerechtere Welt. Eine Buchbesprechung, Deutsch-Burkinische Freundschaftsgesellschaft, Burkina Info 2-2017, Karlsruhe, Dezember 2017.
[11] Siehe https://www.africanculturefund.net/resultats-de-lappel-a-propositions-13-sahel-articipation-un-appel-a-propositions-special-inclusion/. Zum Fonds allgemein siehe https://www.africanculturefund.net/ sowie https://web.facebook.com/africanculturefund.
[12] In der Fachsprache wird hier offenbar von “Löschen“ und, noch schlimmer, “Extinktion“ gesprochen.
[13] Siehe Ines Tougma, Art : Des enfants autistes s’expriment à travers, «l’autre regard», La Tribune du Faso 29.6.2024, https://www.latribunedufaso.net/?p=14574.