Foto: dem Vater der/des Neugeborenen ist keine Trauer anzumerken, doch wo ist die Mutter? lebt sie?
die Wahrscheinlichkeit, dass sie am Gebären gestorben ist, ist nach wie vor erschreckend hoch [1]
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Günther Lanier, Ouagadougou 30. April 2025[2]
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Jö, ein Baby!
Aber ist es im Vierteljahrhundert seit der Jahrtausendwende weniger gefährlich geworden, einem solchen das Leben zu schenken?
Dieser Frage geht eine am 7. April 2025 veröffentlichte Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nach. Streng genommen stecken außer der WHO noch UNICEF, UNFPA, die Weltbankgruppe und die Abteilung für Bevölkerung im Amt für wirtschaftliche und soziale Angelegenheiten der UNO mit dahinter. Und genau genommen geht es nicht um 25, sondern nur um 24 Jahre: Die Studie referiert Trends bei der Müttersterblichkeit von 2000 bis 2023 – rezentere Daten gibt es offenbar nicht, zumindest nicht solide und weltweit vergleichbare[3].
so oder so ähnlich stellen wir’s uns immer vor, das Kinderkriegen und seine Freuden; doch in Wirklichkeit sind Mutter und Kind gefährdet [4]
Trotz aller Bemühungen um Genauigkeit, was die Daten betrifft – und solcher Anstrengungen gab es viele, wie insbesondere das Methodologie-Kapitel beweist; auch das excecutive summary (die Zusammenfassung) beginnt mit Anmerkungen zu den Daten –, trotz aller Bemühungen um Genauigkeit bleiben es “Schätzungen“, die der Bericht präsentiert, schon sein Titel sagt es. 195 Länder und Territorien konnten erfasst werden – das sind um zwei mehr als die UNO (und auch die WHO) Mitglieder hat[5], also allerhand.
Die folgende Karte zeigt die Müttersterblichkeit pro 100.000 Lebendgeburten im Jahr 2023 – je dünkler blau, umso höher.
Mit Müttersterblichkeit meint die Studie[7] den Tod von Schwangeren und von Frauen innerhalb von 42 Tagen ab Schwangerschaftsende.
Die im Bericht vor allem gemessene und berichtete Müttersterblichkeitsquote (maternal mortality ratio/MMR) ist die Zahl der Muttertode pro 100.000 Lebendgeburten während einer bestimmten Periode[8].
Das ist auch die in der Karte oben und der Tabelle unten wiedergegebene Kennzahl.
Eine weitere aussagekräftige Kennzahl ist das Erwachsenen-Müttersterblichkeits-Lebenszeitrisiko (adult lifetime risk of maternal death), die Wahrscheinlichkeit, dass eine 15-Jährige (also eine Jugendliche zu Beginn der Geschlechtsreife) im Laufe ihres Lebens an Mutterschaftsbelangen sterben wird[9].
Die folgende Tabelle vergleicht Kontinente bzw. deren Regionen. Afrika ist, wie in den Berichten Multilateraler üblich, fünfgeteilt. Nordafrika wird von Subsahara-Afrika getrennt und mit West-Asien gemeinsam in einer eigenen Gruppe geführt. Dieser Einteilung der WHO-Studie bin ich nicht gefolgt. Stattdessen ordne ich soweit möglich kontinentweise zu. Außerdem habe ich nur die meisten, aber nicht alle Kategorien (Spalten wie Zeilen) der zugrundeliegenden Tabelle[10] der WHO-Studie ausgewählt.
Die Unterschiede sind also enorm.
Die Müttersterblichkeitsquote lag im westlichen Afrika 2023 ungefähr 300-mal so hoch wie in Australien und Neuseeland und für eine 15-jährige Jugendliche ist die Wahrscheinlichkeit, einmal an Mutterschaft zu sterben, fast 400-mal so hoch[11].
Die Fortschritte – weltweit und noch mehr in Afrika – sind hinter den Hoffnungen zurückgeblieben. Weltweit sind 2023 geschätzte 260.000 Frauen daran gestorben, dass sie Leben geschenkt haben[12], ungefähr 700 pro Tag, eine alle zwei Minuten[13]. Pro 100.000 Lebendgeburten starben im Jahr 2000 durchschnittlich 328 Frauen, 2023 waren es immerhin um 40% weniger: 197 Frauen. Der von den nachhaltigen Entwicklungszielen für das Jahr 2030 vorgegebene Wert von 70 scheint völlig außer Reichweite.
Die Mutterschaft repräsentierte 2023 für Mädchen und Frauen in gebärfähigem Alter (generell mit einem Alter von 15-49 Jahren angenommen) 8,9% der Todesursachen – gegenüber 12,6% im Jahr 2000.
Die regionalen Unterschiede sind erheblich. 70% aller an der Mutterschaft gestorbenen Frauen sind Afrika unterhalb der Sahara zuzurechnen. Pro 100.000 Lebendgeburten starben hier 2023 noch immer 454 Frauen, in Westafrika sogar 690 – aber das sind schon viel weniger als die 912 um die Jahrtausendwende.
Begeben wir uns auf die einzelstaatliche Ebene, so sind abermals überall große Unterschiede festzustellen. Doch ist unter den von der Müttersterblichkeit am ärgsten Betroffenen Afrika gut vertreten: 2023 stufte die WHO weltweit die Müttersterblichkeitsquote von neun Ländern als “sehr hoch“ ein. Davon lagen acht in Subsahara-Afrika, nämlich Nigeria (MMR 993), Tschad (748), die Zentralafrikanische Republik (692), Südsudan (692), Liberia (682), Somalia (582), Benin (518) und Guinea-Bissau (505)[14].
Die abschließende Tabelle zeigt die Müttersterblichkeit in den afrikanischen Ländern[15].
N.B. Die vier Spalten dieser zweiten Tabelle sagen sehr verschiedene Dinge aus – hier eine Interpretationshilfe:
Die Zentralafrikanische Republik – in der letzten Reihe, weil im Alphabet zuletzt – hatte 2023 gemäß erster Spalte eine (von der WHO geschätzte) Müttersterblichkeitsquote von 692, das heißt, dass bei 100.000 Lebendgeburten 692 Mütter starben, was extrem viel ist.
Laut zweiter Spalte starben in der Zentralafrikanischen Republik im Jahr 2023 insgesamt 1.700 Frauen an der Mutterschaft – diese Zahl sagt vor allem etwas über die Größe oder Kleinheit der Bevölkerung des Landes, vereinfacht ausgedrückt wird hier quasi die Müttersterblichkeitsquote mit der Einwohnerinnenzahl multipliziert. Um eine extreme Gegenüberstellung vorzunehmen: Die Seychellen haben eine unendlich geringere absolute Zahl von Müttertoden vorzuweisen als Nigeria – das liegt zum einen an der niedrigeren Müttersterblichkeit, zum anderen und vor allem aber daran, dass es sehr viel mehr Nigerianerinnen gibt als Seychellerinnen.
Die dritte Spalte verrät uns, dass in der Zentralafrikanischen Republik das Müttersterblichkeits-Lebenszeitrisiko erschreckende 1 zu 24 beträgt: Für eine 15-Jährige beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass sie im Laufe ihres Lebens an Mutterschaftsbelangen sterben wird ein Vierundzwanzigstel – auf Cabo Verde hingegen beträgt dieses Verhältnis 1 zu 1.650, in Österreich trotz des über die letzten Jahre vonstattengehenden Sozialabbaus 1 zu 13.905.
Die vierte Spalte gibt an, bei wie viel Prozent der Frauen im gebärfähigen Alter (15-49) die Mutterschaft Todesursache ist. In der Zentralafrikanischen Republik ist dieser Prozentsatz mit über einem Viertel erschreckend hoch: 28,4%.
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Es ist skandalös, wie wenig Aufmerksamkeit die Müttersterblichkeit erhält.
Daran sterben, das Leben zu schenken, ist zu fast hundert Prozent vermeidbar. Tun wir es – und zwar jetzt!
Endnoten:
[1] Foto Zahara Abdul 3.12.2018 in einem Gesundheitszentrum in Kampala, Uganda; leicht zugeschnitten GL, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Father_with_newborn.jpg.
[2] Petra Radeschnig gilt – wie stets – mein herzlicher Dank fürs Lektorieren!
[3] 24: Von Anfang 2000 bis Ende 2023. Die UNICEF ist für Kinder (und Frauen) zuständig, die UNFPA für sexuelle und reproduktive Gesundheit, die Weltbankgruppe verfügt über eine gute Datenbasis und UN-DESA steht für Department of Economic and Social Affairs der UNO, ist Teil des Sekretariats der Vereinten Nationen und leistet Forschungsarbeit und politische Analysen im Rahmen der 2030er Agenda für nachhaltige Entwicklung.
Hier jetzt der vollständige Titel der Studie: Trends in maternal mortality 2000 to 2023: estimates by WHO, UNICEF, UNFPA, World Bank Group and UNDESA/Population Division, Genf (WHO) 2025, Lizenz CC BY-NC-SA 3.0 IGO. Herunterladbar ist die Studie auf https://www.who.int/publications/i/item/9789240108462.
[4] Die Mutter präsentiert ihr Neugeborenes der NachbarInnenschaft in Niaganane, einem Viertel von Thionck-Essyl, einer Kleinstadt im Département Bignona, nordwestlich von Ziguinchor in der Casamance im äußersten Süden Senegals. Foto Jacques CAVAILLON 1.3.2006, oben und unten leicht zugeschnitten GL, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Awa._%E2%92%B8_J_Cavaillon._mention_obligatoire_IMG_1458.jpg.
[5] Die zwei sind Puerto Rico und die besetzten palästinensischen Gebiete. Siehe WHO-Studie, a.a.O., p. xiv.
[6] Die Karte findet sich als Figure 4.1 auf p.41 der WHO-Studie. Den untersten Teil der Legende (und auch Südamerikas) habe ich abgeschnitten, dort steht auf Englisch, dass die hellgraue Farbe bedeutet, dass es keine Daten gibt (Französisch-Guyana), die mittelgraue hingegen, dass die erhobene Größe nicht anwendbar (not applicable) ist (z.B. die Westsahara).
Was Übersetzungen betrifft, verlangt die WHO folgenden Disclaimer: “This translation was not created by the World Health Organization (WHO). WHO is not responsible for the content or accuracy of this translation. The original English edition shall be the binding and authentic edition.“ WHO-Studie, p. ii.
[7] WHO-Studie, p.10.
[8] Ebd., p.12. Achtung! Im Deutschen wird diese Kennzahl üblicherweise als “Müttersterblichkeitsrate“ bezeichnet und das ist auch durchaus eine vertretbare Übersetzung des englischen Begriffs. Doch die WHO hat die maternal mortality rate/MMRate ebd. anderweitig definiert als die Zahl der Muttertode einer Periode dividiert durch die von den Frauen in gebärfähigem Alter in dieser Periode gelebten Personenjahre, d.h., es handelt sich um den Prozentsatz gebärfähiger Frauen, die an Mütterbelangen sterben.
[9] Siehe ebd.
[10] Es handelt sich um Tabelle 4.3 auf p.42. Sie heißt mit vollem Namen “Comparison of maternal mortality ratio (MMR) and number of maternal deaths, and percentage change and average annual rate of reduction of MMR, by United Nations Sustainable Development Goal (SDG) region, subregion and other grouping, 2000 and 2023”.
[11] Und zwar 1 von 55 gegenüber 1 von 21.248. Siehe WHO-Bericht, p. xvi.
[12] Mit Säuglings- und Kindersterblichkeit – auch diese nach wie vor (viel zu) hoch – beschäftigt sich die Studie nicht.
[13] Alle Angaben in diesem und den beiden folgenden Absätzen: WHO-Studie pp. xv-xvi.
[14] Ebd., p. xvi. Einziger nicht-afrikanischer Staat unter den neun schlechtesten ist Afghanistan, das mit einer MMR von 521 nur unwesentlich schlechter rangiert als das sonst so oft gelobte Benin.
[15] Quelle ist der Annex 4 der WHO-Studie auf pp.72-79 mit dem Titel “Estimates of maternal mortality ratio (MMR), number of maternal deaths, lifetime risk, percentage of HIV-related indirect maternal deaths and proportion of deaths among women of reproductive age that are due to maternal causes (PM), by country and territory, 2023“. Ich habe in meiner Tabelle nur die afrikanischen Länder berücksichtigt und die Spalten um mehr als die Hälfte reduziert.