Bild: Gesichtsrekonstruktionen von acht der neun [1]
* * *
Günther Lanier, Ouagadougou 19. Juli 2023[2]
Es ist knapp hundert Jahre her.
Tatort: die Kruisrivier-Farm, in der Nähe von Sutherland, in der Nordkap-Provinz Südafrikas.
Nein, bei den Sutherland Nine handelt es sich um keine VerbrecherInnen-Bande. Vielmehr waren sie oder das, was von ihnen geblieben war, die Opfer.
Um den Versuch der Nachkommen des damaligen Grabräubers, das an den Skeletten der Neun verübte Unrecht so gut es geht gegenüber ihren Familien wiedergutzumachen, geht es in einem Ende Mai erschienenen Paper: “Sich historischen Altlasten biologischer Anthropologie in Südafrika stellen – Restitution, Wiedergutmachung und gemeinschaftszentrierte Wissenschaft: die Sutherland-Neun“[3]. Das Paper ist Frucht einer Zusammenarbeit von 21 WissenschaftlerInnen, die meisten von ihnen von der Cape Town-Universität, dazu nationale und internationale PartnerInnen, z.B. auch von den Max-Planck-Instituten in Jena und Leipzig. Federführend bei dem Projekt war Victoria E. Gibbon vom Institut für Humanbiologie der Cape Town-Universität[4].
Als Probeexemplare ausgegraben, werden diese neun nun als Menschen begraben[5].
Eines der geschändeten Gräber auf der Kruisrivier-Farm [6]
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und bis circa 1930 waren sterbliche Überreste von Khoikhoi und San[7] sehr gefragt und wurden zwischen Museen und Universitäten weltweit gehandelt. Sie waren insbesondere für “Forschungen“ im Rahmen der Rassenkunde wichtig. Als die Cape Town-Universität mit der Lehre von Medizin und Anatomie begann, wurde an der dortigen Humanbiologie auch ein Depot für menschliche Skelette eingerichtet, 1913 war das. Ein 2017 vorgenommenes Audit förderte neun unrecht erworbene Skelette zutage.
Die neun Skelette wurden der Cape Town-Universität vom Medizinstudenten Carel Gert Coetzee geschenkt. Seiner Familie gehörte die Kruisrivier-Farm (etwa 250 km nordöstlich von Kapstadt), wo alle neun zwischen 1925 und 1927 ausgegraben wurden. Acht der neun hatten für den Vater oder Großvater Coetzee gearbeitet, sieben wurden auf der Farm begraben, einer (Voetje, dem Medizinstudenten persönlich bekannt) in den Bergen in der Nähe. Während Coetzee anlässlich der Schenkung über diese acht einige Informationen lieferte, wusste er über den neunten (Igue We) nichts. Dass dieser mit den anderen acht verwandt war, ist unwahrscheinlich, wurde im Zuge der Forschung per Radiokarbonmethode doch festgestellt, dass er vor circa 700 Jahren gestorben ist.
Igue We [8]
Von zweien der neun kennen wir die vollständigen Namen (Cornelius Abraham, Klaas Stuurman), von vier weiteren die Vornamen (Saartje, Jannetje, Voetje, Totje). Den Namenlosen wurden im Rahmen des Restitutionsprozesses vom Nationalen San-Rat (National San Council) in Zusammenarbeit mit den involvierten Familien Namen verliehen: Das Mädchen wurde Saa genannt, “Elenantilope“, (für die San ein heiliges, spirituelles Tier), der Bub G!ae, “Springbock“, eine für die Nordkap-Provinz typische Antilopenart, und der Unbekannte Igue We, “Segen“.
Saa
Dass Klaas, Saartje und die Eltern von Jannetje frei lebten, bis sie von Coetzees Urgroßvater gefangengenommen und auf die Farm gebracht wurden, wusste der Spender bei der Skelett-Übergabe zu berichten. Wahrscheinlich geschah dies während der berüchtigten Razzien der “Kommandos“ (bewaffnete Milizen zu Pferd), die viele San umbrachten oder zwecks Zwangsarbeit verschleppten[9]. Klaas und Saartje waren laut Coetzee verheiratet gewesen. Die zwischen ihnen begrabenen G!ae und Saa seien ihre Kinder oder Enkel gewesen. Klaas sei ermordet worden, während Totje[10] nach Coetzees Angaben an Tetanus gestorben war. Ein Bruder von Cornelius lebte zum Zeitpunkt der Spende noch auf der Farm.
Klaas
Wie wurde Wiedergutmachung für den neunfachen Grabraub geleistet?
Die beiden bekannten Familiennamen waren der Ausgangspunkt. In Sutherland wurden Familien mit den Namen Abraham und Stuurman kontaktiert. Mitteilungen in der lokalen Presse und eine Pressekonferenz mit lokaler und nationaler Reichweite wiesen auf die Sache hin. Dann wurde im Oktober 2018 in Sutherland ein großes öffentliches Treffen abgehalten, bei dem die Nachkommen, GemeinschaftsführerInnen aus der Stadt und andere Mitglieder einer breit definierten Gemeinschaft mit einer Delegation der Cape Town-Universität zusammenkamen.
Beim ersten Treffen mit den Familien wurde der Sachverhalt die Skelette betreffend dargelegt. Die Universität entschuldigte sich ohne jeglichen Vorbehalt bei der tief betroffenen, ja geschockten Gemeinschaft. Den Familien wurde gesagt, dass von nun an sie und sie alleine entscheiden würden, was zu passieren habe. Schnell war klar, dass ein Wiederbestatten absolute Priorität besaß. Allerdings wollten die Nachkommen davor noch so viel wie möglich über ihre Vorfahren herausfinden. Sie verlangten eine umfassende Untersuchung der neun.
Die folgende Forschung geschah unter Anleitung der betroffenen Familien, für jeden Schritt wurde informierte Zustimmung (informed consent, also Einverständniserklärungen nach erfolgter Aufklärung), eingeholt. Es wurde ein multidisziplinäres Team zusammengestellt, um vom historischen Kontext über Archäologie[11] und Osteobiographie (Rekonstruktion eines Individuums und seiner Lebensgeschichte aus Skelettresten) bis zur digitalen Rekonstruktion und Darstellung von Gesichtern und genetischen und stabilen Isotopenanalysen durchführen zu können.
Voetje
Während des gesamten Prozesses wurde seitens der Cape Town-Universität peinlich genau auf Einhaltung aller legalen Bestimmungen und vor allem ethischen Prinzipien geachtet. Was die Publikation betrifft, wurde den Nachkommen Co-Autorschaft angetragen. Sie wollten aber nur in den Danksagungen erwähnt werden[12].
Die Osteobiographien gaben Auskunft über Geschlecht, Alter, Größe sowie Hinweise auf gewohnte Tätigkeiten, Krankheiten und Verletzungen[13]. Der Bub G!ae wurde nur 4 bis 6 Jahre alt, das Mädchen Saa 6 bis 8 Jahre. Die sieben Erwachsenen erreichten Alter zwischen 20 und 60 Jahren. Alle wiesen Spuren harter körperlicher Arbeit sowie unzureichender Ernährung auf. Die Knochen von vier der fünf Männer zeigen Verletzungen, die meisten davon verheilt (Voetje dürfte gehinkt haben), nur die Schädeltraumata von Klaas und Igue We dürften tödlich gewesen sein. Bei vier der sieben Erwachsenen deuten Abnutzungen an Schienbein und Sprungbein (Talus) auf die unter Khoisan gewohnte Hockstellung mit den Fersen am Boden. Grüne Flecken an mehreren Knochenteilen deuten auf das Tragen von Kupferschmuck, z.B. dürfte Saartje in der Mitte der Stirn an ihren Haaren befestigten Schmuck aus Kupfer getragen haben.
Nachkommen sehen erstmals die Gesichtsrekonstruktionen ihrer Vorfahren [14]
Am unmittelbarsten “überzeugend“ unter den Forschungsergebnissen zu den Sutherland-Neun sind die digitalen Rekonstruktionen und Darstellungen der Gesichter. Mit Ausnahme Totjes, wo dafür der Schädel fehlt, wurden sie für alle Opfer von Coetzees Grabrauben angefertigt. Die Methode findet sonst in der Gerichtsmedizin und in der Archäologie Anwendung. Hautton und -struktur, Haare und Falten können nicht eindeutig vom Schädelknochen abgeleitet werden. Frisuren wurden z.B. anhand von Bildern der betreffenden Zeit ergänzt. Um die ebenso wenig rekonstruierbaren Farben verwenden zu müssen, wurde für alle Darstellungen ein Sepia-Ton gewählt, in Nachahmung der Fotografien des 19. Jahrhunderts.
Für die genetische Analyse wurde DNA aus den Zähnen entnommen. Damit konnte Verwandtschaft unter den Neun festgestellt werden. Während geklärt wurde, dass Saartje und Klaas weder Mutter noch Vater der beiden Kinder waren, waren die beiden im 2. Grad verwandt, könnten also Halbgeschwister oder Doppelcousins/cousinen[15] gewesen sein – somit ist unwahrscheinlich, dass sie verheiratet waren. Sie können aber freilich als Pflege- oder Ersatzeltern für Saa und G!ae fungiert haben. Im 3. Grad verwandt, also vielleicht einfache Cousinen/Cousins, waren Jannetje und sowohl Klaas als auch Saartje.
Cornelius
Die drei besterhaltenen Genome – von Saartje, Klaas und Jannetje – konnten für Vergleiche herangezogen werden. Sie erwiesen sich als den Kx’a- und Tuu-sprechenden Gruppen der nordwestlichen und südöstlichen Kalahari am ähnlichsten (z.B. die Ju/’hoansi, Taa, ǂKhomani, Karretjie, /Gui and Naro), das sind die Genome mit den geringsten Nicht-Khoisan-Beimischungen[16].
Jannetje
Stabile Isotopenanalysen ermöglichen Rückschlüsse auf Ernährung und Umwelt während des ganzen Lebens. So konnte z.B. der Zeitpunkt von Klaas’ Gefangennahme und zwangsweiser Übersiedlung auf die Kruisrivier-Farm bestimmt werden: Er war damals ungefähr zehn Jahre alt. Diese Analyse zeigt auch, dass Saartje trotz der nahen Verwandtschaft mit Klaas vor ihrer Gefangennahme/vor der Farm anderswo gelebt hat als er. Sowohl Klaas in seiner Vor-Farm-Zeit als auch sechs Jahrhunderte früher Igue We weisen starke isotopische Variationen auf – das ist offenbar ein Hinweis auf ihre nomadische Lebensweise im trockenen Inneren des südlichen Afrikas, wo im Laufe eines Jahres das Zurücklegen großer Distanzen üblich war.
Anzumerken ist noch, dass mit Ausnahme von Saa, G!ae, und Igue We die Namen der Sutherland-Neun diejenigen waren, die von den Coetzees benutzt wurden, überwiegend niederländische Namen. Die “wirklichen“ Namen der Betroffenen bleiben unbekannt.
Saartje
Dank der während des ganzen Prozesses konsequent nachfahren- und gemeinschaftszentrierten Ausrichtung der Cape Town-Universität und dank ihrer Bereitschaft, beträchtliche Ressourcen an Zeit, Energie und Geld zu investieren, hat die Entdeckung der Sutherland-Neun somit Gelegenheit geschaffen, über die konkrete Restitution von neun Skeletten und ihr Wiederbegräbnis hinaus in einem sehr viel weiteren Sinn Sühne und Wiedergutmachung zu leisten, Würde wiederzuerlangen und Heilung zu ermöglichen. Ganz nebenbei haben alle Beteiligten durch das Forschen viel gelernt.
Ihnen, geschätzte LeserInnen, haben die Sutherland-Neun hoffentlich interessante und kurzweilige Leseminuten verschafft. Möge Restitution nunmehr, wo dieses Vorbild in die Welt gesetzt wurde, anderswo mit demselben Ernst und derselben Bereitschaft zur Wiedergutmachung betrieben werden!
Endnoten:
[1] Aus dem in der Folge präsentierten Paper (kurz “Paper“ genannt), p.9; https://doi.org/10.1371/journal.pone.0284785.g002.
[2] Petra Radeschnig gilt – wie stets – mein herzlicher Dank fürs Lektorieren!
[3] Victoria E. Gibbon, Loretta Feris, Joscha Gretzinger, Kathryn Smith, Simon Hall, Nigel Penn, Tinashe E. M. Mutsvangwa, Michaela Heale, Devin A. Finaughty, Yvonne W. Karanja, Jan Esterhuyse, Daniël Kotze, Nina Barnes, Geney Gunston, Je’nine May, Johannes Krause, Caroline M. Wilkinson, Stephan Schiffels, Doreen Februarie, Sianne Alves, Judith C. Sealy, Confronting historical legacies of biological anthropology in South Africa – Restitution, redress and community-centered science: The Sutherland Nine. 2003. PLoS ONE 18(5). e0284785. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0284785.
[4] Von ihr ist auch der The Conversation-Artikel, der mich auf die Spur des Papers gebracht hat: San and Khoe skeletons: how a South African university sought to restore dignity and redress the past, The Conversation 13.7.2023, https://theconversation.com/san-and-khoe-skeletons-how-a-south-african-university-sought-to-restore-dignity-and-redress-the-past-207551.
[5] Paper, p.2, Abstract-Endsatz: “While these nine individuals were exhumed as specimens, they will be reburied as people.”
[6] Paper, p.15. Aus https://doi.org/10.1371/journal.pone.0284785.g005 ausgeschnitten und leicht überarbeitet, GL.
[7] Heute oft als “Khoisan“ zusammengefasst, in der Selbstwahrnehmung “Khoi“ (Menschen). Die Unterscheidung zwischen den zwei “Völkern“ der “Buschmänner“/San (JägerInnen und SammlerInnen) und “Hottentotten“/Khoikhoi (ViehzüchterInnen), haben die Kolonialherren gemacht.
[8] Dieses und alle anderen Einzelporträts ausgeschnitten aus der zu Artikelbeginn wiedergegebenen Sammelabbildung, Paper, p.9, https://doi.org/10.1371/journal.pone.0284785.g002.
[9] Es hat sich um einen nie geahndeten Genozid gehandelt. Siehe z.B. Mohamed Adhikari, The Anatomy of a South African Genocide: The Extermination of the Cape San Peoples, Athens, Ohio (Ohio University Press) 2010. Im Paper kurz auf p.6.
[10] Er war das neunte Opfer, das nicht abgebildet ist, weil dem Skelett der Schädel fehlt.
[11] Archäologie kam bei der Analyse der Gräber zur Anwendung. Siehe Paper, pp.6f.
[12] Siehe den ganzen ersten Absatz der Acknowledgments im Paper, p.19.
[13] Ein diesbezüglicher tabellarischer Überblick findet sich auf p.4 des Papers.
[14] Paper, p.15. Aus https://doi.org/10.1371/journal.pone.0284785.g005 ausgeschnitten und leicht überarbeitet, GL.
[15] Cousins/Cousinen mütterlicher- und väterlicherseits. M.a.W., die Väter sind Vollbrüder, die Mütter Vollschwestern.
[16] Dazu gab es keinerlei europäische oder asiatische Beimischungen.