rechts vorne im Bild einer der drei Mango-Bäume, die uns köstlich-dichten Schatten spendeten [1]
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Günther Lanier, Ouagadougou 23. April 2025[2]
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Bitte begleiten Sie mich heute bei einem kleinen Ausflug hinaus aus der burkinischen Hauptstadt Ouagadougou. Würde eine Krähe fliegen (im Deutschen ist prosaischer von Luftlinie die Rede), wären es von mir daheim keine 15 Kilometer gen Norden.
Doch diese 15 Kilometer haben es in sich – sie bewirken einen Weltenwechsel.
Der kurze Zwischenstopp an der Stadtausfahrt bei einer Total-Tankstelle – die noch immer so heißt, obwohl der französische Multi alles Burkinische im Februar an Coris Investment Group verkauft hat – erweist sich als so kurz nicht. Bei der Zufahrt wirkt die Anlage futuristisch, sind doch sämtliche Zapfsäulen ihrer Verkleidungen beraubt. Als wir nach einigem Warten – das Benzin rinnt nur tropfenweise aus der Zapfpistole – dran sind, erklärt uns die Tankwartin, dass die Hitze das Problem ist.
Davon war in den Medien berichtet worden: Nein, es gäbe mitnichten eine Benzinknappheit, hatte es offiziellerseits geheißen, die Hitze bewirke nur den sogenannten “Vapor Lock“-Effekt, zu Deutsch Dampfblasensperreffekt. Bei diesem geht ein Teil des Benzins in den Gaszustand über und da das in einem geschlossenen System passiert, wird der Benzinfluss behindert oder gar unterbunden[3]. Es wurde geraten, vor allem in den frühen Morgen- oder späten Nachtstunden zu tanken…[4]
Aber Hitze um 9h vormittags? Es hatte keine 35 Grad – das ist eine Temperatur, die es in Burkina untertags zu jeder Jahreszeit haben kann. Hätten die derzeit vierzig Grad plus erreichenden Nachmittagstemperaturen einen Teil des Benzins dauerhaft in Gaszustand versetzt? Jedenfalls meinte die Tankwartin, niemand verstehe, was los sei, aber seit den frühen Morgenstunden schon rinne das Benzin nur sehr gemächlich. Eis soll Abhilfe schafen – und tatsächlich liegt auf einem neuralgischen Punkt der Zapfsäule ein Brocken Eis. Im Laufe des Tankens kommt ein Tankwart-Kollege vorbei, fügt noch mehr Eis hinzu, spritzt mit kühlem Wasser auf andere Zapfsäulenteile.
Es hätte kaum eine bessere Einleitung geben können zu unserem Ausflug: diese eisgekühlten, ihr Innenleben preisgebenden Zapfsäulen am Rand der (zumindest in wichtigen Teilen) modernen Hauptstadt Burkina Fasos, die so überraschend unberührt ist von den Verheerungen des Krieges gegen den Terror, der noch immer nicht zu Ende ist[5], doch wo das Leben weitergeht, wo weiter Straßen asphaltiert werden, usw., als wäre nichts geschehen, als herrsche Frieden im Land.
Weg von der Umfahrungsautobahn – 4 km sind es noch, auf vor allem anfänglich sehr schlechter Straße nach Sag-Nioniogo
April ist im zentralen Burkina der heißeste und trockenste Monat. Ab Mai kann es – selten, aber doch – regnen und dann jeweils kurz abkühlen. Regen steckt im Namen des Dorfes, in das wir unterwegs sind: das “sag“ von Sag-Nioniogo ist von “saaga“ abgeleitet und das bedeutet Regen. Und “nioniogo“ deutet auf die BewohnerInnen des Dorfes, das sind nämlich yõnyõose, die hier schon gelebt haben, als vor vielen Jahrhunderten die berittenen Mossi, von Süden kommend, ihr Reich eroberten. Während die Mossi dann die politische Herrschaft übernahmen, blieb den yõnyõose als ErstbewohnerInnen die Erdherrschaft (sie waren für Riten und das Zuweisen von Land zuständig). Und bis zum heutigen Tag heißt es, dass sie Macht über Wind und Regen haben[6] – essentiell in einem Land, wo es nach wie vor und trotz der von Thomas Sankara und seinen NachfolgerInnen unternommenen Anstrengungen recht wenig künstliche Bewässerung gibt.
Bei unserem Ausflug handelt es sich um einen Verwandtenbesuch[7]. Laurentine, die mit ihrer Familie im Südwesten lebt, ist in Ouagadougou zu Besuch und nimmt die Chance wahr, eine Woche am Dorf zu verbringen, wo sie geboren und aufgewachsen ist und wo noch immer die meisten ihrer Verwandten leben. Wir bringen sie und ihre vierjährige Tochter hin. Letztere macht während der ganzen Autofahrt keinen einzigen Muckser und benimmt sich auch in der Folge so brav, wie es nur geht. Wären wir in Österreich, würde ich mir Sorgen machen um dieses “zu brave“ Kind, hier gehört das zum “guten Ton“ – Kinder soll man nicht hören. Die Kleine wird im Dorf dann auch ausgiebig verwöhnt. So erntet eine ihrer Tanten mit einer langen Stange Mangos von einem der drei dichtbelaubten Bäume, unter denen für uns eine Bank hingestellt wurde, bevor uns das Willkommenswasser gereicht wird, wir dann, daran gelabt, ein zweites Mal und jetzt richtig begrüßt werden. Und dann werden wir überhäuft mit Essen und Trinken.
nicht nur Menschen genießen den Mangobaum-Schatten
Zu diesen Mangobäumen gibt es eine Geschichte. Derjenige, der heute Oberhaupt der Großfamilie ist, hat Kinderlähmung überlebt. Eine seiner Tanten, die im Westen des Landes verheiratet war, brachte ihm anlässlich eines Besuchs in ihrem Heimatdorf drei kleine Mangobäumchen mit und pflanzte sie – es würde ihm schwerfallen, meinte sie, sich weit von daheim wegzubewegen, er solle ganz in der Nähe Schatten zum Ausruhen und Spielen finden. Die drei Mangobäume sind ihrem Auftrag nachgekommen, es sind wunderbare Exemplare ihrer Art[8], riesig und ihr Schatten könnte dichter nicht sein.
Auch sonst gibt es hier wunderschöne Bäume, eng beieinander stehen sie freilich nur selten, von einem Wald kann ich wirklich nicht schreiben.
zaanga, eine Mimosenart; an seinem unteren Stammbereich wachsen an einer Seite Wurzeln und Äste des kʋɩnkʋɩɩga (ficus ingens) oder kʋɩnkʋɩ–pelg, was so viel heißt wie weißer kʋɩnkʋɩɩga – er scheint der Mimose nicht zu schaden, spart sich das Selberstammbauen; ich nehme an, das nennt man Halbschmarotzer; die Mimosenstammhinterseite schaut ganz anders aus
hier ein viel ausladenderer zaanga (Mimose); links hinter ihm zwei Gräber, eines davon fein herausgeputzt, gekalkt und mit blauem Kreuz. Die Toten und ihre Gräber werden wo möglich nicht ausgelagert in ferne Friedhöfe, sondern bleiben Teil des Alltags
Ganz überrascht war ich, als ich eine Würgefeige entdeckte. Die kannte ich nur aus tropischen Regenwäldern – es handelt sich wohl um eine andere Art (es gibt mehrere Feigenarten, die ihre Wirtsbäume erwürgen).
eine Würgefeige – links mehr oder weniger der ganze Baum, rechts aus der Nähe
Wie gesagt herrscht Trockenzeit – am Ostermontag ist die Sonne in Ouagadougou zu Mittag im Zenith gestanden, so scheint sie jetzt ungefähr ein Drittel des Jahres aus dem Norden auf uns hernieder –, seit Oktober hat es keine nennenswerten Niederschläge mehr gegeben. Entsprechend ist die Erde nackt, außer Bäumen wächst hier derzeit so gut wie nichts. Doch die Leute von Sag-Nioniogo haben Glück. Ein paar hundert Meter nördlich des Dorfes gibt es viel Wasser – Laurentine nennt dieses Wasser “Fluss“ und in der Regenzeit gibt es hier zweifellos eine starke Strömung, doch jetzt handelt es sich um den nördlichsten Teil des Loumbila-Stausees, der auch zum Höhepunkt der Trockenzeit genug Wasser hat, auch wenn sein Spiegel deutlich tiefer liegt als in der Regenzeit.
Während das Südende des Loumbila-Stausees als Naherholungsgebiet für die HauptstädterInnen ausgebaut wurde (und wohl weiter wird), wird hier rund um den See gegärtnert. Von der anderen Seite des Sees sind schwach Motoren zu hören – machen auch gasbetriebene Wasserpumpen Lärm? Was ich zu sehen bekam, waren jedenfalls ausschließlich Gaspumpen.
und sobald Wasser da ist, gedeiht alles – hier Zwiebel, das dürfte das derzeitige Hauptanbauprodukt
bÉ©to (hibiskus sabdariffa (?)) – das ist aber nicht die Hibiskus-Art, die für das beliebte Bissap-Getränk verwendet wird
welch Üppigkeit im Herzen der trockenen Landschaft Zentral-Burkinas!
Auberginen, die europäischen (nicht die kÊ‹mba, die gar nicht verwandten “lokalen Auberginen“)
Zum Mahlen von Mais oder anderen Getreiden (der traditionelle tô – eine Art Polenta – wird untraditionellerweise heutzutage nicht mehr aus Hirse, sondern aus Mais zubereitet[9]) werden auch heute noch traditionelle Mühlen verwendet.
ein gemauerter Sockel, auf dem die eigentliche Mühle angebracht ist: ein auf dem Sockel aufliegender flacher Stein und ein runderer, der wie beim Teigwalken vor und zurück bewegt wird
ein Stein zum Mahlen und drei Mahl-“Unterlagen“
vis-à-vis der alten ist hier eine neue Mühle in Bau
Einen so perfekt sauberen Hof wie diesen habe ich, glaube ich, in Burkina bisher noch nicht gesehen. Bei dem vielen Wind und den Hendln, die freien Zutritt haben, kommt das einem Wunder gleich. Hier lebt ein altes Paar, beide jedenfalls jenseits der siebzig und das wohl deutlich. Sie haben lange Jahre in der Côte d’Ivoire gelebt (wie so viele andere Burkinabè auch), sind für ihren Lebensabend aber zurück in ihrer Heimat. Und glauben Sie nicht, dass die beiden sich ausruhen – der alte Herr hatte gerade ein Stück der Außenmauer aufgestockt. Damit sie auch hält, hatte er diese an ihrer Basis mit einer kleinen Stützmauer versehen.
die vielen hier drinnen gelagerten Zwiebel werden so vor allzu zudringlichem Federvieh geschützt – gleichzeitig ist die Belüftung gesichert
Die Alte eröffnete dann den Reigen der Geschenke an uns – ich weiß nicht, wie viele Kilo Zwiebel wir von ihr bekamen. Die burkinische Gastfreundschaft bleibt auch nach vielen Jahr hier im Land überwältigend.
ein sinnvollerweise etwas außerhalb des menschenbewohnten Hofes gebauter Stall; vom Nachwuchs sind nur zwei von vier zu sehen
Daniel, das Familienoberhaupt, von dem ich oben ausgeplaudert habe, dass er als Kind Polio überlebt hat – er arbeitet offenbar mehr als die meisten Nichtgehandikapten – hat sich einst gegen seine eigene Familie zur Wehr setzen müssen[10]. Er sollte verheiratet werden mit der Witwe eines Verwandten. Doch diese Frau wollte er absolut nicht. Sich auf seine sowieso schon wehen Beine zu stellen, erforderte damals eine Drohung mit Selbstmord. Die wirkte.
In der Folge heiratete er eine Dagara. Letztere sind zwar sprachlich recht nah verwandt mit den Mossi, befolgen aber recht unterschiedliche gesellschaftliche Regeln[11]. Allen bekannt sind die relativ hohen Brautpreise, die sie verlangen (drei Stiere…) – während der Brautpreis bei den Mossi zu allererst symbolische Bedeutung hat.
Die Erwählte hatte mit ihrem Dagara-Partner zuvor schon zwei Kinder, zwei Töchter, gezeugt – doch der Mann hatte ihrer Familie nie den Brautpreis bezahlt – und war somit weder ihr Mann noch der Vater ihrer Kinder. Daniel hingegen zahlte den Brautpreis. Er kümmerte sich auch um die in die Ehe eingebrachten Mädchen.
Doch als die beiden heranwuchsen, erwiesen sich die beiden Kulturen als unvereinbar: Ein Mann, der um ihre Hand ansuchte, muss sich, damit alles seine Richtigkeit hat und die Familie der Braut zu der Verbindung steht, des Brautpreises entledigen. Doch den wollte niemand entgegennehmen: Für die Dagara hatte Daniel, indem er den Brautpreis für die Mutter bezahlt hatte, jedes Recht, für die Töchter zu kassieren. Doch für die Mossi schaut das ganz anders aus, wäre das Unrecht. Was folgte war ein langwieriges Hin und Her – bevor dann doch eine Lösung gefunden wurde[12].
die Landschaft ist karg, zweifellos; aber sie ist von großer Schönheit und strahlt Frieden aus; kann Buddha mehr in sich ruhen als dieses Zebu?
Ein interkulturelles Problem sehr viel einfacherer Art habe ich verursacht. Als wir unter den drei Mangobäumen ankamen und willkommen geheißen wurden, hatten dort auf einem Stück Stoff zwei kleine Buben tief und fest geschlafen[13]. Sie waren ähnlich groß, waren beide blau angezogen – ich hielt sie für Zwillinge, doch das sind sie offenbar nicht. Als wir dann von unserem Spaziergang zum “Fluss“ zurückkamen, waren sie wach. Ich wollte sie grüßen, streckte dem näher zu mir Stehenden meine Rechte entgegen. Oh Schreck! Die Ausweichbewegung rückwärts war so spontan und heftig, dass der zweite, hinter ihm Stehende, sich nicht auf den Beinen halten konnte.
Dass weiße Haut Schrecken auslöst, ist freilich so besonders nicht. Was erzählenswerter ist: Die Erwachsenen rundum lachten zwar herzlich, nahmen die Angst der beiden aber ernst und redeten mit den Kleinen. Kurze Zeit später, als sie aufgefordert wurden, mich zu grüßen, kamen sie – freilich mit nach wie vor weit offenen, vorsichtigen Augen – und schüttelten mir zaghaft die Hand.
von unterm Mangobaum hatte ich ihn in der Ferne erspäht – einer der wenigen noch immer laublosen Bäume (sonst waren vor allem die Baobabs noch kahl), doch mit vielen weißen Blüten – in Wirklichkeit leuchteten sie mehr als auf dem Foto
Den schönsten habe ich für den Schluss aufgehoben: kalgemtoɛɛga (crateva adansonii)[14]. Der Baum selbst nicht besonders groß, ich würde meinen, vor allem bizarr. Aber die Blüten! Schöner selbst als die der Guaven! Blüten und Blätter werden gegessen. Und alle Baumteile haben heilende Eigenschaften.
Endnoten:
[1] Dieses und alle anderen Fotos des heutigen Artikels Günther Lanier, 22.4.2025.
[2] Petra Radeschnig gilt – wie stets – mein herzlicher Dank fürs Lektorieren!
[3] Ich hoffe, ich Nicht-Naturwissenschaftler gebe das richtig wieder. Zum vapor lock effect ist viel am Netz zu finden. Zum burkinischen Fall siehe z.B. https://theconversationafrica.cmail20.com/t/r-e-thdjnuk-khhradjdl-r/.
[4] Wobei Fragen bleiben: Die heurigen Spitzentemperaturen sind bisher unter denen des Vorjahres gelegen – im Vorjahr trat das Phänomen aber nicht auf…
[5] Die Regierung hat jüngst ein Komplott aufgedeckt: Überwiegend im Ausland lebende burkinische Militärs wollten einen Staatsstreich veranstalten. Um die Stimmung im Volk zu verderben und so Unterstützung für ihre Putschpläne zu erhalten, hätten sie den TerroristInnen Informationen zugespielt, die ebendiesen Vorteile im Kampf gegen die regulären Truppen inklusive der Freiwilligen für die Verteidigung des Heimatlandes (VDP) verschafft hätten. Quelle: Nachrichten z.B. auf Radio Omega 22.4.2025.
[6] Der verbreitetste yõnyõose-Name ist Sawadogo/Savadogo. Ein durch den Alternativen Nobelpreis berühmter Sawadogo ist Yacouba: Siehe Yacouba Sawadogo. Das Aufbereiten des Unmöglichen, Ouagadougou (Africa Libre) 26.9.2018, https://www.africalibre.net/artikel/307-yacouba-sawadogo-oder-das-aufbereiten-des-unmoglichen bzw. Wien (Radio Afrika TV) 26.9.2018.
[7] Ja freilich, für mich sind es kollaterale Verwandte, angeheiratete.
[8] Diese weitverbreitete Mango-Art wird “longs nez“ genannt, “Langnasen“ – zu unterscheiden von den “nez coupés“, denen die Nasen abgeschnitten wurden.
[9] Hirse – egal ob aus Kolben- oder Rispenhirse/Sorgho – ist viel nahrhafter und schmeckt besser (tô aus Mais hat eigentlich keinen Geschmack). Mais-tô ist allerdings um vieles leichter zuzubereiten. In der Stadt ist es schwierig geworden, Hirse-Mehl für den tô aufzutreiben.
[10] Damals – es muss über zwei Jahrzehnte her sein – war er noch nicht Familienoberhaupt.
[11] Dagara leben in erster Linie in der Südwest-Region und dort vor allem rund um Diébougou.
[12] Diese Geschichte ist mir erzählt worden, bevor ich Daniel kannte. Die Lösung ist mir entfallen – ich werde sie ergänzen, wenn ich sie herausfinde. Ich erinnere mich nur, dass sie niemanden wirklich befriedigte.
[13] Die Fotos von den beiden Schlafenden sind süß – da ich aber niemanden um Erlaubnis gefragt habe (dass ich über den Ausflug schreiben könnte, fiel mir erst im Nachhinein ein), verwende ich heute keine Menschen-Fotos.
[14] Deutschen Namen gibt es offenbar keinen. Er ist jedenfalls ähnlich – manche sagen ident mit dem crateva religiosa, Indiens sacred bama – siehe https://tropical.theferns.info/viewtropical.php?id=Crateva+religiosa zur Frage der Gleichheit. Zum Baum selbst siehe Michel Arbonnier, Arbres, arbustres et lianes des zones sèches d’Afrique de l’Ouest2, Paris (CIRAD, MNHN) 2002 p.218.