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Der Sahel und seine Wirtschaft – Teil 1

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Foto: Spirulina-Produktion im Petit Séminaire von Koudougou[1]. Diese Gattung der Cyanobakterien soll ab dem 9. Jahrhundert im Kanem-Reich in der Umgebung des Tschad-Sees bekannt gewesen sein[2].

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Günther Lanier, Ouagadougou 20.7.2022[3]

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Kaum jemand denkt an Ökonomisches, wenn vom Sahel die Rede ist. Doch vor Wirtschaft ist kein Entkommen, auch an der Südküste der Sahara nicht[4].

Anfang Mai ist im Promedia-Verlag ein von mir mitherausgegebenes Buch zum Sahel erschienen[5], zu dem ich die Hälfte der Texte beigesteuert habe.

Ich habe an dieser Stelle am 15. und 22. Juni schon die Einleitung aus diesem Buch veröffentlicht[6]. Um Ihnen noch mehr Gusto auf das Buch zu machen, hier der 1. Teil des Kapitels über die Wirtschaft im Sahel – geringfügig überarbeitet. Der 2. Teil des Kapitels folgt nächste Woche.

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also: Der Sahel und seine Wirtschaft

Günther Lanier

Beginnen wir wie es in Sachen Ökonomie konventioneller nicht geht: mit dem Bruttoinlandsprodukt, dem BIP. Es geht nicht darum, Armut oder Entwickeltheit der Sahel-Staaten zu messen, dafür gäbe es geeignetere Indikatoren. Es geht darum, das Gewicht zu erkunden, das der Sahel in die Waagschale des globalen Marktes wirft.


[7]

Das BIP der neun Sahel-Staaten – auf 8,2 Millionen km2 leben da 356 Millionen Menschen – summiert sich auf etwas mehr als das österreichische (430,94 Mrd USD). Nehmen wir die ökonomische “Großmacht“ Nigeria heraus (sie hat inzwischen Südafrika als Nummer 1 überholt), deren Erdöl ja in Atlantik-Nähe gefördert wird, weit weg vom Sahel, dann bleiben gar nur 119,4 Mrd USD übrig, das ist ein klein bisschen mehr als ein Viertel des österreichischen BIP, bei noch immer 150,24 Millionen Menschen, die auf 7,25 Millionen km2 leben.

Hier noch vier weitere Vergleiche, um die Sahel-BIP-Gesamtsumme (inklusive Nigeria) anschaulich ins Verhältnis zu setzen. Die 551,69 Mrd USD entsprechen 14,3% des deutschen BIP, 3,7% des chinesischen und 2,6% des US-amerikanischen. Gemessen am BIP wiegt der Sahel global 0,65%[8].

Trotzdem ist natürlich ein halbe Billion USD eine erkleckliche Summe Geldes.

Allerdings ist noch ein Vorbehalt angezeigt: Das BIP stellt das Gewicht, das der Sahel auf die Waage des globalen Marktes bringt, größer dar, als es wirklich ist. Denn der Anteil der Subsistenzwirtschaft ist im Sahel überdurchschnittlich groß: SelbstversorgerInnen, also BäuerInnen, die vor allem das konsumieren, was sie selbst anbauen, bedürfen der Märkte oder des Geldes nicht oder nur wenig. Marktlos oder marktfern leben – was für ein Luxus!

Das BIP hingegen misst alles in Geld. Auch die Subsistenzproduktion wird in Geld umgerechnet und dazugezählt. Die Gesamtsumme will ja wirklich alles erfassen, was ein Land so produziert. In der Satten Welt[9] sind Geld und Produktion mit gewissen Einschränkungen[10] tatsächlich kosubstantiell. Denn da taugt der Gemüsegarten mit ganz wenigen Ausnahmen nur zum Aufbessern der Nahrung. Sonst wird gearbeitet und so Geld verdient und auch die wenigen verbliebenen LandwirtInnen verkaufen ihre Ernte und besorgen sich ihre Lebensmittel dann überwiegend im Supermarkt (GreißlerInnen gibt es ja fast keine mehr).

Für den Weltmarkt ist die Vollständigkeit des Erhebens der Produktion unerheblich. Für ihn und seine Unternehmen – und da vor allem für die großen – zählt nur, was an Geld im Säckel der Bevölkerung ist; was ihnen aus der Tasche gezogen werden kann. Deswegen habe ich schließlich auch das BIP zu laufenden Preisen als Vergleichsgrundlage herangezogen. Konstante Preise brauchen wir, wenn wir Wachstum inflationsbereinigen wollen, also das “reale“ Wachstum kennen wollen. Und Kaufkraftparitäten sind erforderlich, wenn uns interessiert, wie es den Leuten geht mit dem Geld, das sie verdienen, mit dem Geld, das sie zur Verfügung haben: was es wert ist, wie viel es kaufen kann.

Eventuell mit der Ausnahme Nigerias mit seinen 0,51% Anteil am Welt-BIP wird der Sahel also ökonomisch kaum von sich reden machen, weder, was seine Produktionskapazitäten, noch, was seine Nachfragemacht betrifft. Und für die einzelnen Sahel-Staaten gilt das noch viel stärker – ihre Anteile am Welt-BIP liegen alle zwischen 0,002% (Eritrea) und 0,03% (Sudan). Will eine Wirtschaft unter solchen Rahmenbedingungen gute Figur machen oder gar glänzen, dann wird das wohl in Nischenbereichen sein.

Doch lassen wir das Quantitative, auch wenn es das ist, worum sich alles modern Ökonomische dreht.

Integration ins Weltsystem

Wir haben es mit einem der abgelegensten Teile des Weltsystems zu tun, befinden uns sozusagen an einem seiner Ränder. Das hat teils geographische Gründe – Mali, Burkina Faso, Niger und Tschad haben keinen Zugang zum Meer, sind logistisch benachteiligt. Vor allem aber erfolgte die Integration in die Weltwirtschaft ziemlich spät, nämlich Ende des 19. Jahrhunderts, als die mehrheitlich französische (Senegal, Mauretanien, Mali, Burkina Faso, Niger, Tschad), die englische (Nigeria, Sudan) und die italienische (Eritrea) Kolonialisierung die jeweiligen Gebiete ökonomisch aufbrach (vielfach wurde erst zu diesem Zeitpunkt Geld eingeführt und die UntertanInnen wurden zum Geldverdienen gezwungen, um Steuern zahlen zu können) und den Interessen des jeweiligen nationalen Kapitals unterwarf. Da war anderswo die kapitalistische Entwicklung schon in vollem Schwung, sogar in Österreich-Ungarn, das diesbezüglich unter den damaligen Großmächten ein Nachzügler war.

Das Nachholen-Wollen von Entwicklung gelingt nur selten. Während der Kolonialzeit – also im Wesentlichen bis circa 1960 – gab es auch kein Bemühen um Entwicklung im eigentlichen Sinn, es ging vielmehr um das Aufbereiten des jeweiligen “Überseegebietes“ für die wirtschaftlichen Interessen des “Mutter-“ oder “Vaterlandes“ und das bedeutete in der Mehrzahl der Fälle eine weitgehende Beschränkung auf Primärproduktion (Landwirtschaft und Bergbau). Die Unabhängigkeit brachte dann meist auch kein radikales Umdenken, keinen radikalen Kurswechsel, was “Entwicklung“ betrifft. Die nationale Bourgeoisie setzte sich nur an die Stelle der kolonialen Administration und besorgte die Ausbeutung des ihr überlassenen Landes nach gewohnten Prinzipien. Oft hatte sie auch keine andere Wahl, legten ihr doch die zur Unabhängigkeit aufgezwungenen Kooperations- und Militärverträge geradezu eine Zwangsjacke an.

Vor diesem historischen Hintergrund überrascht es wenig, dass die Integration des Sahel ins globale System nie ganz zu Ende geführt worden ist. Zwar gibt es im Sahel heute ähnlich viele Mobiltelefone wie in der Satten Welt, ein industrieller Sektor, der seinem Namen Ehre macht, existiert aber nur in Ausnahmefällen und bleibt in der jeweiligen Ökonomie ein Fremdkörper.

Gelungen ist Nachholen von Entwicklung im Japan der Meijizeit (1868-1914). Ein rigoroses Einschränken der Kontakte mit dem Rest der Welt spielte dabei eine wesentliche Rolle. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelang China Ähnliches, abermals unter abgeschotteten Bedingungen. Darüber hinaus waren die vier Tigerstaaten erfolgreich, zwei davon (Singapur und Hongkong) sind jedoch Stadtstaaten und die beiden anderen (Südkorea und Taiwan waren von großer strategischer Bedeutung für die USA – die Nr.1 der Welt sorgte daher dafür, dass dort erfolgreich Entwicklung betrieben wurde.

Dass Abkoppeln und Eigenständigkeit nötig sind, um eine sinnvolle Entwicklung auf den Weg zu bringen, dürfte auch in Mali zu Beginn seiner Unabhängigkeit klar gewesen sein, doch noch unter Modibo Keïta wurde bald von den vielversprechenden anfänglichen Bemühungen abgegangen. 1983 unternahm die Revolution in Obervolta einen beherzten und international vielbeachteten Vorstoß in ähnlicher Richtung. Trotz mangelnder materieller Mittel fuhr die abseits (neo)klassischer Vorstellungen verfolgte Wirtschafts- und vor allem Gesellschaftspolitik beträchtliche Erfolge ein. Doch waren vier Jahre zu kurz, um Grundlegendes zu ändern. Mit der Ermordung Sankaras am 15. Oktober 1987 setzte das immer vollständigere Abgehen von revolutionärer oder auch nur alternativer Politik ein und bald lag das Land wieder auf Washington Consensus[11]-Kurs und konnte sich 1991 trotz aller Konditionalitäten bei den Bretton Woods-Institutionen[12] sein Geld für sein erstes Strukturanpassungsprogramm abholen.

1991 war auch das Jahr, in dem sich im äußersten Osten des Sahel Eritrea daranmachte, seine über dreißig Jahre von Äthiopien endlich erkämpfte Unabhängigkeit ins Werk zu setzen. Die Eritreische Volksbefreiungsfront (EPLF) hatte unter schwierigsten materiellen Bedingungen schon in der Zeit des Kampfes in den von ihr kontrollierten Gebieten ihr revolutionäres Credo in die Praxis umgesetzt und wichtige soziale und politische Veränderungen vorgenommen. Der zum Präsidenten mutierte Rebellenführer Isayas Afewerki und sein EPLF-Team genossen enormes Prestige. Wie sehr Optimismus die Lage des Landes in den 1990er Jahren prägte, zeigt die große Zahl von Diaspora-EritreerInnen, die nach Hause zurückkehrten, um am Aufbau mitzuwirken.

Doch all dem setzte der blutige und opferreiche äthiopisch-eritreische Grenzkrieg von 1998-2000 ein Ende. Bereits in die Wege geleitete Reformen wurden nicht umgesetzt. Eritrea wähnte sich weiter im Kriegszustand[13]. Dem sollte ein “Nationaldienst“ abhelfen. De facto war und ist das ein Wehr- und Arbeitsdienst mit lächerlich niedrigem Sold, der in vielen Fällen Jahrzehnte dauert. Es handelt sich um Zwangsarbeit, der sich viele trotz der erheblichen Risiken vor und nach Überschreiten der eritreischen Grenze durch Flucht zu entziehen versuchen[14]. Von revolutionärem Gedankengut ist nicht mehr viel übrig. Um den chronischen Geldmangel zu mindern, erhebt die Regierung auf Gehälter von EritreerInnen in der Diaspora eine 2%ige Steuer (wer sie nicht zahlt, kann nicht nach Eritrea auf Besuch kommen – wer sie hingegen zahlt, wird hofiert und das “Desertieren“ ist vergeben und vergessen) und Asmara (Hauptstadt, Regierungssitz und Unesco-Welterbe) verkauft Konzessionen an ausländische Bergbauunternehmen, von denen gemunkelt wird, dass sie auch von der unter dem Deckmantel des Nationaldienstes daherkommenden Zwangsarbeit profitieren[15].

So herrscht im Sahel heute weit und breit neoliberale Einöde. Internationaler Währungsfonds und Weltbank haben sich durchgesetzt. Nur im Kleinen, im Bereich “Zivilgesellschaft“ gibt es nach wie vor Initiativen, Vereine, NGOs, die sich nicht unterkriegen lassen. Ich will “Umwelt für die Entwicklung Afrikas“ (Environnement pour le Développement de l’Afrique/ENDA), eine der Gründungen des 2018 verstorbenen Politökonomen und Querdenkers Samir Amin, als Beispiel anführen.

Samir Amin war 1963, zum Zeitpunkt seiner Gründung, Mitarbeiter am Afrikanischen Institut für ökonomische Entwicklung und Planung (Institut Africain de Développement Economique et de Planification/IDEP) in Dakar geworden, einem Organ der angesehenen UNO-Wirtschaftskommission[16] für Afrika. Aufgabe dieser panafrikanischen Institution war es, “die neuerdings unabhängigen Staaten dabei zu begleiten und zu unterstützen, die Kapazitäten ihrer Humanressourcen zu stärken, Vorbedingung einer Garantie der Viabilität (also der tatsächlichen Verwirklichung und des Überlebens, GL) von deren Unabhängigkeit sowie des Förderns ihrer sozioökonomischen Entwicklung“[17]. 17 Jahre war Samir Amin diesem Institut verbunden, von 1970 bis Ende 1980 stand er ihm vor[18]. Als IDEP-Direktor war Samir Amin in den 1970er Jahren an der Gründung von ENDA, CODESRIA und dem Dritte Welt-Forum ganz wesentlich beteiligt.

Da im ersten Jahrzehnt der Unabhängigkeit afrikaweit Entwicklung ausblieb – Modernisierungstheorien hatten einen take-off versprochen – und angesichts eines den Wirklichkeiten des Globalen Südens rundum unangepassten Systems, wurde ENDA 1972 als IDEP-Projekt entworfen, ursprünglich finanziert vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) und der schwedischer Entwicklungszusammenarbeitsagentur (SIDA). Im Zuge seiner Umwandlung in eine internationale NGO, ab Ende der 1970er, hat sich ENDA in zweifacher Weise für die Marginalisierten und für eine nachhaltige Entwicklung engagiert: praktisch, an der Basis, durch Aktivitäten, die den Armen der städtischen und ländlichen Gebiete zugutekamen; und theoretisch, im Kampf gegen die Hegemonie des neoliberalen Einheitsdenkens, mit Aktionsforschung zugunsten einer “wirklichen“ Entwicklung, Kapazitätenstärkung für die AkteurInnen sowie Plädoyer und Lobbying, insbesondere bei internationalen Konferenzen und besonders in Sachen Menschenrechten, Gewalt gegen Frauen, Schuldenstreichung[19].

Im Zuge fortschreitender Internationalisierung zu ENDA-Dritte Welt (ENDA Tiers-Monde oder ENDA TM) geworden, operiert die NGO mittlerweile auf vier Kontinenten und hat sich in ein Netzwerk verwandelt, um flexibler auf lokale Gegebenheiten reagieren, insbesondere effizienter mit den PartnerInnen und sozialen Bewegungen vor Ort zusammenarbeiten zu können[20]. ENDA Tiers-Monde’s Publikationen sind von der Zahl her beeindruckend[21], jene, die ich kenne, sind von großer Qualität, wobei – Samir Amin hierin gerecht werdend – insbesondere ein Reflektieren und Analysieren abseits des Mainstreams mit großer Beständigkeit verwirklicht ist.

Der Platz im Weltsystem

Wie erwähnt, befindet sich der Sahel am Rand der globalen Ökonomie. Und wie erwähnt, ist dort der Anteil der Subsistenzwirtschaft nach wie vor ziemlich hoch – wer in der Stadt keine Arbeit findet, hat immer noch die Option, ins Dorf[22] zurückzugehen und dort Landwirtschaft zu betreiben, sei es für den Eigenbedarf oder für den Markt; manch StaatsdienerIn, manch IntellektuelleR träumt ein Arbeitsleben lang davon, wird es vielleicht in der Pension dann umsetzen.

Diese beiden Faktoren sind keine Zufälle, sie sind integraler Bestandteil des dem Sahel zugewiesenen Platzes im globalen Kapitalismus. Ich werde, um das zu erklären, etwas ausholen.

Das Vorspiel zur kapitalistischen Eroberung der Welt fand im 15. und 16. Jahrhundert statt, auf einer eher unwirtlichen Insel im Nordwesten Europas, nämlich Großbritannien. Dort mangelte es GroßgrundbesitzerInnen an Weideland für ihre Schafe, deren Wolle angesichts der damaligen starken Ausweitung der textilen Produktion sehr begehrt war. Ohne viel Skrupel bedienten sie sich des Landes in Gemeinschaftseigentum, “privatisierten“ Gemeingut – die Allmende –, hegten es ein (enclosure-Bewegung) und verjagten BäuerInnen von ihrem Land. Das unter Einsatz von mehr oder weniger Gewalt seines Grund und Bodens und seiner Arbeitsmittel beraubte einfache Volk sah sich von nun an gezwungen, seine Arbeitskraft zu Markte zu tragen – und zwar eine Arbeitskraft, die nun wahrlich frei war: bar aller anderen Produktionsmittel.

Auf der anderen Seite der Gleichung konnte das für die Schafswolle eingenommene Geld, so es nicht gleich für (Luxus)Konsum ausgegeben wurde, zukünftigen ökonomischen Unternehmungen als Grundlage dienen. Dieses initiale Sparen, das Zurücklegen von Geld, um es zu investieren, nennen wir “ursprüngliche Akkumulation“. UnternehmerInnen brauchen Kapital und hier hatten sie nun ihr Startkapital. Außerdem waren natürlich auch Arbeitskräfte erforderlich – unter den Produktionsfaktoren ist die Arbeit bekanntlich[23] der einzige, der tatsächlich Wert schaffen kann. Da traf es sich gut, dass gerade viele BäuerInnen von ihren Produktionsmitteln befreit worden waren, die hatten nunmehr gar keine andere Wahl, als sich den BesitzerInnen von Geräten und Maschinen und Fabriken anzudienen – nicht als SklavInnen, nicht als Leibeigene, sondern ganz freiwillig, als LohnarbeiterInnen.

Und so nahm die Ausbreitung des Kapitalismus ihren Lauf und innerhalb von ein paar Jahrhunderten verbreitete sich dieser über die ganze Welt[24] – den letzten großen Anschub dazu gab die 1884/85 von Bismarck organisierte Berliner Konferenz der Großmächte, die den “Wettlauf um Afrika“ (scramble for Africa) und die koloniale Aufteilung des “Dunklen Kontinents“ auslöste, die noch vor der Jahrhundertwende erfolgte.

Doch bei aller Höherentwicklung, bei allem unentwegten Fortschritt wurde die kapitalistische Erschließung des Globus nie vollendet[25]. Trotz seiner Ubiquität und seiner Dominanz braucht “der Markt“ ein “Draußen“, profitiert er von einem Bereich, der nicht seinen Gesetzen unterliegt. Das betrifft insbesondere – nicht nur im Sahel, sondern auch in Wien oder New York – große Teile des Bereichs der Reproduktion. Diese wird nicht oder zumindest nicht direkt vom Kapitalismus organisiert, sie findet vielmehr überwiegend im Privatbereich statt, in der Familie, in einem intimen Bereich, für den auch heute noch meist die Frauen die Verantwortung tragen. An der Peripherie der Welt kommt zum reproduktiven Sektor auch noch die Subsistenzwirtschaft dazu. Dass die kapitalistische Marktwirtschaft diese Bereiche nicht “erobert“ hat, wirkt sich für sie insofern vorteilhaft aus, als die Betriebs- oder Unterhaltskosten der reproduktiven und subsistenzwirtschaftlichen Sektoren nicht ihr obliegen. Hat der Markt Bedarf an Arbeitskraft, so kann er auf die hier geparkten Reserven jedoch zugreifen. Deren Funktion ähnelt also jener der industriellen Reservearmee der Satten Welt. Der “formelle“ Sektor benutzt die überwiegend von den Frauen produzierten und instandgehaltenen (reproduzierten) Arbeitskräfte, zahlt sie aber weder fürs Kochen noch fürs Aufziehen der Kinder noch fürs Pflegen der Alten und Kranken. Es ist eine fortwährende – in der Peripherie noch deutlich ausgeprägtere – ursprüngliche Akkumulation[26], die der Kapitalismus hier veranstaltet. Dabei dient Subsistenzwirtschaft nicht nur als Arbeitskraftreserve, sie drückt auch Löhne: Wenn sie nebenbei ausgeübt wird, brauchen Teil-SelbstversorgerInnen zum Abdecken des Restes ihrer Bedürfnisse nur mehr Geringstlöhne (unter dem Existenzminimum). Und sie fängt die “Konjunkturschwankungen“ ab, da braucht es kein Arbeitslosengeld, keine Sozialhilfe oder soziale Sicherung, die gerade nicht benötigten Arbeitskräfte können ja auf den Feldern bei ihnen daheim am Dorf für ihr eigenes Überleben sorgen.

Somit haben die “Außenbereiche“ Reproduktion und Subsistenzwirtschaft zwar nicht teil am kapitalistischen Wirtschaften, sie leisten aber wertvolle Beiträge und dumm wäre eine Weltsystem, das sich bemühen würde, sie auszumerzen. Mit anderen Worten handelt es sich bei diesen “Fremdkörpern“ nicht um prä-, sondern um para-kapitalistische Phänomene.

* * *

(Teil 2 von “Der Sahel und seine Wirtschaft“ folgt nächste Woche)

* * *

“Krisenregion Sahel. Hintergründe, Analysen, Berichte“[27] hat 256 Seiten, misst nach Verlagsangaben 14,8 x 21cm, kostet 22 Euro. Die Internationale Standardbuchnummer (ISBN) ist 978-3-85371-501-7. Abgesehen von den meinen stammen die Beiträge – in alphabetischer Reihenfolge – von Elisabeth Förg, Christoph Gütermann, Georges Hallermayer, Ishraga Mustafa Hamid, Birgit Mayerhofer, Tobias Orischnig, Werner Ruf, Markus Schauta, Franz Schmidjell, Mariam Wagialla und Charlotte Wiedemann.

Bestellungen auf https://mediashop.at/buecher/krisenregion-sahel/ oder im Fachbuchhandel.

* * *

Endnoten:

[1] Foto Günther Lanier 16.7.2022.

[2] Angelo Soliman war ein Kanuri, das war das staatstragende Volk des Kanem-Reiches. Dieses hat für Boko Haram als historische Referenz große Bedeutung, hatte allerdings absolut nichts mit Terrorismus zu tun, war einst vielmehr für seine (für die Gegend sehr frühe) islamische Kultur und Gelehrsamkeit bekannt. Siehe Günther Lanier, Wo es keine Perspektive gibt. Boko Haram oder das Versagen des Anti-Terror-Kampfes, 28.4.2021, https://www.africalibre.net/artikel/160-boko-haram-oder-das-versagen-des-antiterrorkampfes bzw. Wien (Radio Afrika TV) 28.4.2021.
Zu Spirulina am Tschad-See siehe das schöne, 1509’’ dauernde, von der Unesco unterstützte Video “Spiruline, Traditions millénaires“ von Wafik Ghommidh, 2019: https://www.youtube.com/watch?v=-2w5sWpGvYI.

[3] Petra Radeschnig gilt – wie stets – mein herzlicher Dank fürs Lektorieren!

[4] Sahel = Küste, Ufer auf Arabisch. Auch Swahili kommt daher, die Sprache am Westufer des Indischen Ozeans.

[5] Fritz Edlinger, Günther Lanier (Hg.), Krisenregion Sahel. Hintergründe, Analysen, Berichte, Wien (Promedia) 2022. Zu bestellen auf https://mediashop.at/buecher/krisenregion-sahel/.

[6] Der Sahel aus der Nähe – Einführung, Teil 1, 15.6.2022, https://www.africalibre.net/artikel/449-der-sahel-aus-der-nahe–einfuhrung-teil-1 bzw. https://radioafrika.net/der-sahel-aus-der-nahe-einfuhrung-teil-1/.
Der Sahel aus der Nähe – Einführung, Teil 2, 22.6.2022, https://www.africalibre.net/artikel/450-der-sahel-aus-der-nahe–einfuhrung-teil-2 bzw. https://radioafrika.net/der-sahel-aus-der-nahe-einfuhrung-teil-2/.

[7] Quelle für BIP (zu laufenden USD) und Bevölkerung: Weltbank (https://data.worldbank.org/), abgerufen am 8.11.2021. Alle Werte für 2020, nur für Eritrea bietet die Weltbank keine neueren Daten als die für 2011. Angaben zur Fläche aus Fischer Weltalmanach 2019 – seine leider letzte Ausgabe – Frankf.a.M. (Fischer) 2018.

[8] Ohne Nigeria sind die entsprechenden Werte 3,1% von Deutschland, 0,8% von China, 0,6% der USA und 0,14% der Welt.

[9] Den Ausdruck “Satte Welt“ prägte Nazi Boni im ersten je geschriebenen burkinischen (obervoltaischen) Roman “Crépuscule des temps anciens. Chronique du Bwamu“, Paris (Présence africaine) 1962, p.16. Im Original: “Tiers-Monde“ (= Dritte Welt) und “Monde-Repu“.

[10] Das BIP hat viele Probleme, u.a. wirkt sich Umweltverschmutzung BIP-steigernd aus. Vergessen wir auch nicht, dass die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR) – deren Vorzeigeprodukt das BIP ja ist – ihren großen Aufschwung dem Zweiten Weltkrieg verdankt, bedurften Rüstungsindustrie und Kriegswirtschaft doch genauen Datenmaterials. Vor circa 60 Jahren war der Import der VGR aus den USA in vollem Gange und da hat sich mein Vater seine ökonomisch-professoralen Sporen daran verdient – aus heutiger Sicht leider weitestgehend verlorene Liebesmühe.

[11] Anders als die UNO-Organisationen haben Weltbank und Internationaler Währungsfonds ihre Sitze in Washington, in der Nähe der US-Regierung. Als Washington Consensus werden die neoliberalen, d.h. vor allem sehr business-freundlichen Prinzipien bezeichnet, die der Kreditvergabepolitik der beiden zugrunde liegen.

[12] Internationaler Währungsfonds und Weltbank.

[13] 2018 schlossen Isayas Afewerki und Abiy Ahmed Frieden. Seither hat sich Eritrea an der Seite von Addis Abeba am Krieg gegen Tigre beteiligt und tut es wahrscheinlich weiterhin.

[14] Siehe z.B. die Amnesty International-Medienmitteilung “Eritrea: Unbefristeter «Nationaldienst», Flüchtlinge brauchen Schutz“, London/Bern 1.12.2015 sowie den dort verlinkten Bericht “Just Deserters: Why indefinite national service in Eritrea has created a generation of refugees“, https://www.amnesty.ch/de/laender/afrika/eritrea/dok/2015/bericht-unbefristeter-nationaldienst-fluechtlinge-brauchen-schutz.

[15] Ich habe 2014 sechs Wochen in Eritrea gearbeitet. Siehe auch Günther Lanier, Eritrea einmal anders, Kap.69 in: ders., Afrika. Exkursionen an den Rändern des Weltsystems, Linz (guernica Verlag) 2019, pp.459-463 (nur beim Verlag unter [email protected] erhältlich).

[16] Commission Economique pour l’Afrique/Economic Commission for Africa, Sitz Addis Abeba, ist selbst ein Nebenorgan des UNO-Wirtschafts- und Sozialrates ECOSOC.

[17] Ich übersetze die Selbstdarstellung. Siehe https://www.uneca.org/idep.

[18] Seit August 2015 ist die Tunesierin Karima Bounemra Ben Soltane IDEP-Direktorin.

[19] Siehe die Eigendarstellung der Entstehung/Geschichte auf http://endatiersmonde.org/instit/index.php/qui-sommes-nous/historique/ne-au-sud-pour-construire-des-alternatives.

[20] Siehe abermals die Eigendarstellung, diesmal auf http://endatiersmonde.org/instit/index.php/qui-sommes-nous/historique/l-organisation-devient-reseau-international.

[21] Siehe http://endatiersmonde.org/instit/index.php/component/content/article/29-ressources/261-les-publications-d-enda-tiers-monde.

[22] Selten sagen Sahel-BewohnerInnen, sie seien aus der Stadt. Die allermeisten führen ihre Ursprünge aufs Dorf zurück, auch wenn ihre Vorfahren schon vor ein paar Generationen in die Stadt gezogen sind. Die Beziehungen dorthin werden gepflogen und so besteht meist auch noch ein Anrecht auf den Bebau landwirtschaftlichen Bodens.

[23] Siehe Karl Marx. Kapital ist für ihn nichts Anderes als “geronnene Arbeit“.

[24]Le capital s’est fait monde“ formuliert so kurz wie schwer zu übersetzen Achille Mbembe, Brutalisme, Paris (La Découverte) 2020, p.64. Wörtlich: “Das Kapital hat sich zur Welt gemacht“. Oder vielleicht besser: “Das Kapital hat sich in die Welt verwandelt“.

[25] In diesem Teil stützen sich meine Argumente insbesondere auf die Bielefelder Schule (Maria Mies, Claudia von Werlhof, Veronica Bennholdt-Thomsen) und auf Silvia Federici.

[26] “Ursprünglich“, weil sie von außerhalb des kapitalistischen Bereiches kommt (so wie das Land der BäuerInnen oder in Gemeineigentum, das sich die GroßgrundbesitzerInnen aneigneten) und “fortwährend“, weil sie ohne Unterlass betrieben wird.

[27] Ich habe auf das Buch hier schon mehrmals verwiesen: Siehe auch https://radioafrika.net/ein-buch-zum-sahel-taufrisch/ und https://radioafrika.net/informationen-zu-unserem-anfang-der-vorwoche-herausgekommenen-sahel-buch/ bzw. https://www.africalibre.net/artikel/433-ein-buch-zum-sahel–taufrisch sowie https://www.africalibre.net/artikel/434-informationen-zu-unserem-anfang-der-vorwoche-herausgekommenen-sahel-buch.

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