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Dauerkrise Weltsystem am Beispiel des Sahel

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Foto: Monique Ilboudo vor etwas mehr als einem Jahr [1]

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Günther Lanier, Wien 5.10.2022[2]

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Monique Ilboudo ist bekennende Feministin. Das ist in weiten Teilen Afrikas eine ziemliche Ausnahme. Monique Ilboudo lehrt jetzt wieder Jus an der Uni in Ouagadougou, nachdem sie als Menschenrechtsministerin gedient hat, da war das Ministerium frisch geschaffen worden; später war sie lange Botschafterin in Kopenhagen. In ihrem letzten Roman – “Kreuzung der Witwen“[3] – erwähnt sie kurz, dass Krebse im Lauf ihres Lebens ihr Geschlecht wechseln. Und schreibt in der Folge, dass sie das eigentlich auch gerne erlebt hätte.

Das Phänomen des Geschlechtswechsels ist im “Tierreich“ so selten nicht. Anders als bei transsexuellen Menschen ist es dort aber vorprogrammiert. Es wird sequenzieller Hermaphroditismus genannt, es gibt die Erstmännlichkeit (Proterandrie), die ist deutlich häufiger als die zweite Form, die Erstweiblichkeit (Proterogynie).

Nicht alles bleibt, wie es ist.

Auch sonst entspricht im Tierreich nicht alles dem Schema F, dass Männchen stärker, auffälliger und dominanter sind als die Weibchen. Hyänen z.B. leben im Matriarchat, weibliche Hyänen sind größer, haben mehr Testosteron und verfügen über Pseudo-Penisse[4].

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Die angekündigte Präsentation unseres Sahel-Buches[5] ist gestern Abend im C3 – Centrum für Internationale Entwicklung in der Sensengasse 3, 1090 Wien erfolgreich über die Bühne gegangen.

Meinen initialen Input habe ich mit dem Verweis auf Monique Ilboudo begonnen. Nicht alles ist so einfach, wie es auf den ersten Blick aussieht. Das gilt insbesondere auch für Frauen im Sahel. Meist bleiben diese hinter den Männern verborgen. Auf den präsidialen Thron hat es im Sahel noch keine Frau geschafft. Aber sonst stehen oder standen sie auch in hohen Ämtern ihre Frau. Das gilt von Eritrea am Ost-Ende des Sahel bis Mauretanien und Senegal an seinem West-Ende auch für andere gesellschaftliche Bereiche wie Kultur und Wirtschaft. Freilich darf es aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Stellung der Frau generell eine untergeordnete ist. Akzeptieren wir Maßstäbe wie z.B. den Gender Gap-Index, so haben im Sahel-Durchschnitt die Frauen viel weniger Macht (im weitestmöglichen Sinn) als die Männer. Doch gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Staaten und auch innerhalb jedes einzelnen Landes hängt es von der sozialen Schicht und der ethnischen Gruppe ab, wie ausgeprägt weibliche Benachteiligung ist[6].

Nicht alles ist so, wie der gewohnte Blick es darstellt.

Als es 2014 in Burkina daran ging, nach 27 Jahren Blaise Compaoré vom Thron zu stoßen, war es der Frauenmarsch am 27. Oktober, der den Diktator ins Wanken brachte. Zigtausende marschierten, ausgerüstet mit den Insignien ihrer reproduktiven Macht: den Spateln – Riesenkochlöffeln, die zur Herstellung des Grundnahrungsmittels “tô“ dienen, einer Art Polenta aus Hirse oder Mais. Ein Mann, gegen den seine Frau die Spatel erhebt, um dessen Männlichkeit ist es geschehen. Vier Tage später trat Blaise zurück und floh aus dem Land.


Dorothée Batiga [7]

Nicht alles ist so einfach, wie es auf den ersten Blick aussieht.

Das gilt für Krisen.

Laut Duden ist eine Krise eine schwierige Lage/Situation/Zeit, der Höhe- oder Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung. Eine Krise bedeutet Schwierigkeiten, eine kritische Situation, Gefährdung, Gefährdetsein.

Mir wäre lieber gewesen, der Titel unseres Sahelbuches hätte einfach SAHEL gelautet. “Krisenregion Sahel“ finde ich zu einschränkend. Und die vielen von mir geschriebenen Kapitel fokussieren auch nicht die Krisen, sondern bemühen sich um umfassende Darstellungen. Freilich durchaus kritisch – es gilt, Negatives zu kritisieren, keine Frage.

Schauen wir vor allem genauer hin.

Von welchen Krisen reden wir denn eigentlich? Von den politischen Krisen, z.B. den Staatsstreichen in Tschad, Mali, Burkina? Von der Klimakrise? Von den terroristischen Anschlägen?

Von all diesen legt das Buch Zeugnis ab. Und geht dabei unter die Oberfläche. Als letzten Freitag in Ouagadougou ein Putsch[8] innerhalb des Putsches stattfand und Juntachef Damiba durch Ibrahim Traoré ersetzt wurde, da wurde in der Stadt viel geschossen. Doch die ZivilistInnen wussten, dass sie nicht die Ziele waren. Auch bei dem Putsch Ende Jänner 2022 war das so gewesen. Freilich musst du aufpassen, dass du den Schüssen nicht zu nahekommst. Doch ansonsten kann der Alltag ohne allzu viel Störung weitergehen.

Es gilt genau hinzuschauen: Wer ist in Schwierigkeiten? Wer ist in Gefahr? Nur derjenige, der gerade am Thron sitzt, der gerade an der Macht ist – mitsamt seiner Entourage? Wer verliert?

In Burkina sind seit letztem Freitag auch anti-französische Ressentiments hochgekocht. Sind französische Interessen gefährdet? Die des französischen Staates, der sich ja nach wie vor um Einfluss in seinen früheren Kolonien bemüht? Die Interessen der FranzösInnen im Land (es gibt ihrer nicht wenig – obwohl sehr viel weniger als z.B. in der Côte d’Ivoire oder im Senegal)? Die aller weißhäutigen Expats im Land (weil schließlich nicht so viel Unterschied ist zwischen ihnen allen, was für einen Pass sie auch immer haben, den der früheren Kolonialmacht oder einen anderen)?

Ist es das neokoloniale System, das versagt?

Die auf die Kolonien zurückzuführenden “National“staaten, die seit der Unabhängigkeit nahezu überall unverändert fortbestehen, haben sich als weitestgehend untauglich erwiesen, die Probleme ihrer Staatsvölker zu lösen oder auch nur zu mildern. Die geschaffenen staatlichen Gebilde sind schwach – insbesondere finanziell oder ökonomisch schwach. Nichtsdestoweniger ist der Zugriff auf die Macht im Staat begehrter als in reichen Ländern. Daher auch umkämpft – siehe Staatsstreiche. Staatliche Macht eröffnet den Zugang zu vielerlei Ressourcen. Um diese geht es meist, nicht um das Wohl des Volkes, welches wählen darf oder (im Fall eines Staatsstreiches[9]) eben nicht.

Der Staat im postkolonialen Sahel tut so, als wäre er ein ganz normaler Staat, erhebt z.B. den Anspruch auf das Gewaltmonopol, der Staat ist aber schwach, ist eben koloniales Konstrukt, nicht “natürlich“ gewachsen.

Dieser schwache Staat muss in weiten Bereichen versagen. Auch beim besten Willen könnte er sich nicht um seine UntertanInnen kümmern, nicht umfassend jedenfalls, also nicht in Sachen Gesundheit, Schule, Soziales, Sicherheit. In den “nützlichen“ Teilen des Landes kommt ein solcher Staat in gewissem Maß seinen hoheitlichen Aufgaben nach. Doch weite Gebiete werden vernachlässigt. Wo ganze Landstriche vernachlässigt werden, wo der Staat in seinen vielen Ausprägungen absent ist, wo Menschen keine Aussicht auf ein wirtschaftliches Überleben haben, da haben djihadistische oder terroristische Gruppen leichtes Spiel, da laufen ihnen die RekrutInnen zu.

Seit dem späten 19. Jahrhundert ist der ganze Sahel ins Weltsystem integriert worden. Da die Kolonialherren übers Meer kamen und auch übers Meer mit ihren Mutterländern verbunden waren, wurden ihre neuen Territorien auf das Meer hin ausgerichtet. Dadurch ist der Sahel Peripherie, ja eigentlich Peripherie der Peripherie geworden[10]. Hinter ihm ist nur mehr Wüste…

Hier müssen wir, wollen wir über die “Krisenregion“ Sahel berichten, ansetzen: der Sahel befindet sich in der Weltsystemdauerkrise. Und das nicht erst seit gestern. Nicht erst seit dem Auftauchen der djihadistischen Gruppen. Sondern seit der Eroberung durch die europäischen Mächte.


Madeleine Wayack-Pambè [11]

Kehren wir abschließend noch einmal zu den Frauen zurück: In dem vom Terror besonders betroffenen Mali sterben sehr viel mehr Frauen im Kindbett als an islamistischer oder politischer Gewalt – und das ohne viel Aufhebens und in der Regel ohne dass sich die Weltöffentlichkeit darum kümmert.

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“Krisenregion Sahel. Hintergründe, Analysen, Berichte“ hat 256 Seiten, misst nach Verlagsangaben 14,8 x 21cm, kostet 22 Euro. Die Internationale Standardbuchnummer (ISBN) ist 978-3-85371-501-7. Abgesehen von den meinen stammen die Beiträge – in alphabetischer Reihenfolge – von Elisabeth Förg, Christoph Gütermann, Georges Hallermayer, Ishraga Mustafa Hamid, Birgit Mayerhofer, Tobias Orischnig, Werner Ruf, Markus Schauta, Franz Schmidjell, Mariam Wagialla und Charlotte Wiedemann.

Bestellungen auf https://mediashop.at/buecher/krisenregion-sahel/ oder im Fachbuchhandel.

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Endnoten:

[1] Hier beim Schlusswort anlässlich der Präsentation meines Buches “Au Pays des Femmes Intègres“. Foto Harouna Marané 3.6.2021. Leicht überarbeitet GL.

[2] Petra Radeschnig gilt – wie stets – mein herzlicher Dank fürs Lektorieren!

[3] Monique Ilboudo, Carrefour des Veuves, Pointe-Noire (Les Lettres Mouchetées) 2020.

[4] Siehe Louise Gentle, Sex and power in the animal kingdom: seven animals that will make you reconsider what you think you know, The Conversation 27.9.2022, https://theconversation.com/sex-and-power-in-the-animal-kingdom-seven-animals-that-will-make-you-reconsider-what-you-think-you-know-191369. Auch sequenzieller Hermaphroditismus wird dort en passant erwähnt.

[5] Fritz Edlinger, Günther Lanier (Hg.), Krisenregion Sahel. Hintergründe, Analysen, Berichte, Wien (Promedia) 2022. Zu bestellen auf https://mediashop.at/buecher/krisenregion-sahel/.

[6] Siehe das von mir geschriebene Kapitel “Frauen im Sahel“ ebd. auf pp.237-250, das in den letzten beiden Wochen ebenhier in zwei Teilen zu lesen war.

[7] Sie unterstützte mich bei der Präsentation meines Buches “Au Pays des Femmes Intègres“ vom Podium aus. Foto Harouna Marané 3.6.2021. Überarbeitet GL.

[8] Allgemein wird von “Putsch“ geredet und geschrieben, doch der Ausdruck “Palastrevolte“ wäre angebrachter. Denn nach wie vor ist die MPSR (Patriotische Bewegung für Schutz und Wiederherstellung/Mouvement patriotique pour la sauvegarde et la restauration) an der Macht – jetzt unter einem neuen Führer, eben Ibrahim Traoré. Siehe dazu das BBC-Interview vom 4.10.2022 mit Ouézen Louis Oulon auf https://www.bbc.co.uk/sounds/play/p0d4cpff.

[9] Wie ein Freund von mir angesichts des ungeheuren Enthusiasmus, der den Militärs in Ouagadougou seit dem Freitag-Putsch entgegenschlägt, formulierte, handelt es sich um einen Fall des Stockholm-Syndroms: Militärs nehmen den Staat – also das Volk – mittels Staatsstreiches als Geisel; statt dass sich die Leute beklagen und auflehnen, feiern sie ihre Geiselnehmer.

[10] Präkolonial war das anders. Das Meer war von wenig Interesse, die Küstenländer waren meist dünn besiedelt. Fernhandel wurde über die Sahara getrieben, nicht übers Meer.

[11] Auch sie unterstützte mich bei der Präsentation meines Buches “Au Pays des Femmes Intègres“ vom Podium aus. Foto Harouna Marané 3.6.2021. Überarbeitet GL.

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