Foto: Arbeit am Baumwollfeld im südwestlichen Mali [1]
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Günther Lanier, Ouagadougou 5. März 2025[2]
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Ab dem 18. und dann vor allem im Laufe des 19. Jahrhunderts setzte der Abolitionismus die Sklaverei immer stärker unter Druck, bis sie schließlich ausgerottet war. Aufklärung und christliche Nächstenliebe, so die gängige Erzählung, hatten triumphiert. Weltweit konnte dem fortschrittsfeindlichen, auf extremer und menschenunwürdiger Ausbeutung beruhenden System der Garaus gemacht werden.
Modernes Wirtschaften, so die Mär, beruht auf freier Arbeit. In der Regel haben die aller Produktionsmittel beraubten Arbeitskräfte keine andere Wahl, als ihren einzigen Besitz, ihre eigene Arbeitskraft, zu Markte zu tragen, sich also zu verkaufen, um ihr eigenes Überleben zu ermöglichen. Aller Produktionsmittel “frei“, wie sie nun einmal sind, schließen sie “freie“ Arbeitsverträge – und erwirtschaften hinfort als Gegenleistung für ihr Salär Mehrwert für die ProduktionsmitteleignerInnen.
All das ist zur Genüge bekannt.
Die Quellen für die Versklavten insbesondere für die transatlantischen Zuckerrohr- und Baumwoll-Plantagen hatten auf dem afrikanischen Kontinent gesprudelt. Ende des 19. Jahrhunderts wandelte sich Afrikas Rolle im Weltsystem grundlegend: Statt dass ihm seine Menschen geraubt wurden, wurde es selbst im Gefolge der Berliner Konferenz zum Ziel territorialer kolonialer Eroberung der in vollem kapitalistischen Aufschwung befindlichen europäischen imperialistischen Mächte.
Was in den frisch eroberten Gebieten ins Werk gesetzt wurde, hatte allerdings mit Modernität und freien Märkten höchstens indirekt zu tun. Im Herzen kolonialen Wirtschaftens der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stand Zwang. Zwar wurden in den eroberten Gebieten dem hehren “zivilisatorischen Auftrag“ entsprechend überall Versklavte befreit. Fürs Umsetzen kolonialer Vorhaben und das Verfolgen europäischer Interessen wurde allerdings so gut wie überall Gewalt eingesetzt. Ihr Ausmaß lässt die angeblich so brutalen Vorgängersysteme meist verblassen.
Ein relativ bekanntes Mittel kolonialer Gewalt war Zwangsarbeit. Dass ein anderes Mittel zur Inwertsetzung der Kolonien, Zwangsanbau, nicht minder drastische Folgen für die betroffenen UntertanInnen hatte, will mein heutiger Artikel anhand von ein paar Zitaten zeigen. Dass diese sich vor allem um Baumwolle drehen, ist kein Zufall, hatten die Kolonialherren-Ökonomien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts doch großen Bedarf an diesem Rohstoff. Und wenn es zufälligerweise um den belgischen Kongo geht, also das heutige Kongo-Kinshasa, dann ist einmal mehr ersichtlich, wie die koloniale Zerrüttung den Boden bereitet hat für die Verheerungen, mit denen heute neuerlich der Osten des potentiell so reichen Landes zugedeckt wird, ganz als solle der Genozid in Ruanda vor dreißig Jahren in den Schatten gestellt werden.
Baumwollpflücken in Natal, Südafrika[3]
Am 15. Mai 1943 hat Bruno Geldhof[4] – damals Chef-Missionar in Manono, einer Stadt in der Provinz Tanganjika im damals belgischen Kongo – an die weltlichen Autoritäten einen Brief geschrieben.
“Baumwolle bedarf kontinuierlicher Betreuung, denn Unkraut wächst schneller als Baumwolle. Und wehe dem Schwarzen[5], dessen Feld nicht ordentlich ist. Keine Spaziergänge mehr oder Jagdausflüge, keine endlosen Palaver am Hof des Häuptlings, keine Palmweingelage mehr, bei denen jede Familie reihum alle anderen einlädt, kleine Clan-Feste… Wir haben keine bessere Methode entwickelt, um lokale Bräuche zu zerstören, für die Verwaltung ja ein wirkliches Tabu, als Baumwolle.“[6]
Baumwoll-Samen werden im Oktober und November verteilt. Das Herrichten der Felder ist “Schwerarbeit“. Entspricht die Größe der Fläche nicht den Vorgaben oder wächst Unkraut, so werden solche Verstöße bestraft, mittels “Bußgeld, Arrest, Peitsche“. Die Ernte beginnt im Juni und erfordert “intensive Pflege und Dauerpräsenz“. Gepflückte Baumwolle wird im Dorf untertags in die Sonne gelegt, am Abend sind trockene Blätter und andere Verschmutzungen herauszuklauben und auch die gelben Kapseln, die nicht ausgereift sind. Für die Lagerung werden kleine Speicher gebaut und für den Transport zum Markt müssen Körbe besorgt werden. Um sicher zu gehen, dass die Ware am angesetzten Tag am Markt eintrifft, kommt die Polizei ins Dorf. Dort ist der offiziell festgelegte Preis ganz “offensichtlich ungenügend“. “Beim Zwangsanbau tragen die Schwarzen alle Risken: Trockenheit (wie 1943), Läuse, Raupen, Insekten, Heuschrecken, Überschwemmungen, schlechtes Land, Preisschwankungen am Weltmarkt – alles hat sich gegen unsere Wilden verschworen“.
Baumwollpflücken in Ägypten[7]
Soll jedoch die Dorfflucht umfassend erklärt werden, so muss laut Bruno Geldhof das gesamte Zwangssystem in Betracht gezogen werden:
“Schauen wir uns die öffentlichen Arbeiten an, für deren Ausführung der (Dorf)Chef alljährlich verantwortlich ist: das Dorf sauber halten, was auf bürokratisch bedeutet, Gras, Strauchwerk und Gebüsch aus einem Umkreis von 100 Metern auch der entferntesten Behausung zu entfernen; die Ufer jeden Gewässers, welches das Dorf durchquert, bis 100 Meter ober- und unterhalb des Dorfes freimachen; ein Gefängnis bauen und instand halten; Wege und lokale Auto-Straßen reinigen; das GästInnenhaus in Schuss halten; eine oder mehrere Schulen bauen. Zu leisten ist das alles in Anwesenheit einer beträchtlichen Zahl von Polizisten, die nicht zögern, die Absichten der Arbeitenden lautstark und unmissverständlich in Frage zu stellen… Wie wir sehen, wird den Einheimischen im Landesinneren keinerlei Ruhe gelassen, weniger Nachsichtige würden sagen, sie werden verfolgt wie Tiere.“
Egreniermaschine in Niono im heutigen Mali [8]
Interessanterweise gibt es auf den Brief Bruno Geldhofs eine Antwort des Provinzkommissars[9]. Der beginnt erst gar nicht, die Wahrheit der Behauptungen des einheimischenfreundlichen Missionars in Frage zu stellen. Doch stünden die LandwirtInnen ja nicht alleine da, vielmehr konnten sie ja die Arbeitskraft ihrer ganzen Familie einsetzen bis hin zu “Kindern ab ihrem 10. Jahr“. Und weiter:
“Erinnern wir uns, dass die Schätzungen der Arbeitszeit für die zu leistenden Aufgaben von normalen Zeitplänen abgeleitet sind, die aber nicht den Gewohnheiten der ländlichen Einheimischen entsprechen; ziehen wir in Betracht, dass landwirtschaftliche Arbeiten nicht unbedingt Regelmäßigkeit erfordern, dass es Leerzeiten gibt, wenn sich die Arbeiten verringern; berücksichtigen wir, dass über die zwingend vorgeschriebenen Produkte hinaus ergänzende andere angebaut werden (Maniok, Sorghum(hirse), Mais, (Rispen-)Hirse, Süßkartoffel, Eleusine (Fingerhirse), Bohnen). Es ist leicht verständlich, dass die Einheimischen in der Tat fast das ganze Jahr lang mit Arbeit beschäftigt sind und sich nur zu seltenen Gelegenheiten frei herumbewegen oder Vergnügungen nachgehen können, die einst das Wesentliche ihrer Existenz darstellten. Und wenn der Missionar in seinem (…) Brief vom Zwangsanbau sagt, dass er ‘den Einheimischen elf Monate Freiheit raubt’, so übertreibt er sicherlich, aber was ausgedrückt wird, ist, dass die Einheimischen nicht mehr tun und lassen können, wie sie belieben – stattdessen sehen sie sich mehr und mehr gezwungen, Launen, Nachlässigkeit und Leichtsinn aus ihrem ökonomischen, häuslichen und sozialen Leben zu tilgen und sich immer strikteren Regeln der Ordnung, der Ausdauer und der Arbeit zu unterwerfen. Zweifellos fühlen sich die Einheimischen unterdrückt in diesen Bedingungen, die sie nicht verstehen und deren Wohltätigkeit und Langzeit-Vorteile sie nicht durchschauen.“
Und jetzt kommt der die Erbarmungslosigkeit an die Spitze treibende Schlusssatz: “Doch der eingeschlagene Weg kann nicht aufgegeben werden.“
geerntete Baumwolle in Mogtédo, Obervolta (heute Burkina Faso) [10]
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Endnoten:
[1] Kani liegt in der Gemeinde Nafanga im Kreis von Koutiala in der Region Sikasso. Foto Rik Schuiling 30.7.2015, ursprünglich in seinem Buch “TropCrop“ veröffentlicht; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:2015.07-431-444ap_upland_cotton,cattle(zebu),weeding,furrowing_Kani,Nafanga_Cmn.(Koutiala_Crc.,Sikasso_Rgn),ML_thu30jul2015-0906h.jpg.
[2] Petra Radeschnig gilt – wie stets – mein herzlicher Dank fürs Lektorieren!
[3] Foto B.W. Caney circa 1885, aus dem Bestand des National Maritime Museum, Greenwich, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Natal_cotton_field.jpg.
[4] Eine Kurzbiografie ist zu finden auf https://www.google.com/url?sa=t&source=web&rct=j&opi=89978449&url=https://www.kaowarsom.be/documents/bbom/Tome_V/Geldhof.Bruno.pdf&ved=2ahUKEwiKgKGA0fKLAxVKSkEAHd3ZFnEQFnoECBMQAQ&usg=AOvVaw1CFAt8g1f7nxZ8N2JX4OH6.
[5] Im Original zeitentsprechend “Negro“.
[6] Übersetzung GL. Ich habe diese und auch die in der Folge übersetzten Passagen in Mahmood Mamdanis exzellentem Citizen and Subject. Contemporary Africa and the Legacy of Late Colonialism gefunden, Kampala/Cape Town/London (Fountain Publishers/David Philip/James Currey) 1996 (© Princeton University Press), pp.159-161. Mamdani selbst zitiert als seine Quelle Jewsiewicki, p.66 – wobei er höchstwahrscheinlich Bogumil Jewsiewicki, Martin A. Klein, African peasants in the totalitarian colonial society of the Belgian Congo meint, das 1980 in M.A. Kleins Peasants in Africa bei Sage erschienen ist.
[7] Foto Zdravko Pečar 1955, aus dem Belgrader Museum afrikanischer Kunst; leicht zugeschnitten GL, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Cotton_Picking_in_Egypt.tif.
[8] Foto George Rodger circa 1950, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Africa._French_West_Africa._Currently_the_most_important_efforts_of_the_Office_du_Niger_are_directed_toward_the…_-_NARA_-_541637.jpg
[9] Die Antwort dürfte im August 1943 auf Grundlage einer Inspektionsreise im Bezirk Manono erfolgt sein. Zu finden ist sie in den Archives de la division régionale des affaires politiques du Shaba, Lubumbashi. Meine Quelle ist nach wie vor Mamdani, der sich auch für die Antwort auf Bogumil Jewsiewicki beruft (s.o.).
[10] Foto Fred van der Kraaij 1981, leicht zugeschnitten GL, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:ASC_Leiden_-_F._van_der_Kraaij_Collection_-_12_-_017_-_Huit_jeunes_hommes_en_v%C3%AAtements_occidentaux_-_Mogt%C3%A9do,_Ganzourgou,_Plateau-Central,_Burkina_Faso,_1981.tif.