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An des Weltsystems Grenze?

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Foto: Dan Blocker (Hoss), Michael Landon (Little Joe), Lorne Greene (Ben), Pernell Roberts (Adam) – die wichtigsten Akteure der 431 Episoden zu je 48 Minuten der Serie “Bonanza“, 1959-73 [1]

* * *

Günther Lanier, Ouagadougou 12.4.2023[2]

* * *

Zygmunt Bauman, 1925-2017, war einer der wunderbaren angry old men, denen es gar nicht einfallen würde, je damit aufzuhören, sich einzumischen. Bekannt ist er unter anderem für seine Herleitung des Holocausts aus der Moderne, ein drastisches Abgehen vom sonst weithin üblichen Abtun der Nazi-Gräuel als Ausnahme und Verirrung.

Zu Afrika hat Bauman – lange Zeit Soziologie-Professor an der Universität im britischen Leeds – meines Wissens nie publiziert, der Fokus seines Interesses lag ganz eindeutig im Globalen Norden. In einem Buch, das er 2004 publiziert hat und in dem es hauptsächlich um MigrantInnen als dem paradigmatischen Abfallprodukt der globalisierten Weltwirtschaft nach dem Abbau der Sozialstaaten ging, bin ich aber auf eine Passage gestoßen, von der ich glaube, dass ihr Umlegen z.B. auf manches Sahel-Land lehrreich wäre oder zumindest ein Gedankenanstoß.

Frontierland ist nicht nur ein Themenland in mehreren Disney-Parks. Der Begriff bezieht sich auf das im Laufe des 19. Jahrhunderts immer weiter gegen Westen verschobene Grenzland zwischen US-“Zivilisation“ und “Natur“, voller Cowboys, PionierInnen, Saloons usw. Da gab es einen Frederick Jackson Turner, der hat die Frontier-These aufgestellt, die besagt, dass dieser “Wilde Westen“ konstitutiv für die US-amerikanische Sonderstellung in der Welt (sog. amerikanischer Exzeptionalismus) ist. Seine Theorie, kurz vor dem Ende des 19. Jahrhunderts aufgestellt und damals vielbeachtet, ist heute völlig überholt. Doch der Begriff frontier-land ist präsent geblieben. Im Spätwerk Zygmunt Baumans spielt er eine wichtige Rolle, findet dort aber eine globale Anwendung. So auch in dem Buch, aus dem ich hier einen Abschnitt übersetze. Die in der zunehmend liquiden gegenwärtigen Form der Moderne weltweit herrschenden Produktionsverhältnisse haben den ganzen Globus seines Erachtens in ein Grenzland verwandelt[3].

So sehr ich diesen Gedankengang nachvollziehen kann, scheint aus einer Perspektive des Globalen Südens dennoch ein Festhalten am Unterscheiden zwischen Zentren und Peripherien nötig. Das Überflüssigmachen von Menschen durch das sich immer “höher“ entwickelnde Weltsystem hat in Subsahara-Afrika nach wie vor eine andere Qualität als in London, Nebraska oder Scheibbs.


Port Hartcourt, Süd-Ost-Nigeria, Öl-Raffinerie [4]

Hier nun das Zitat[5]:

“(…) unter klassischen ‘Grenzland’-Bedingungen waren ViehbaronInnen und BanditInnen sich stillschweigend einig: Von den beiden wollte keineR, dass die Gesetzlosigkeit und die Herrschaft der Schnellsten und Gewieftesten und Skrupellosesten außer Kraft gesetzt und durch die Obrigkeit des Gesetzes ersetzt werde. In Abwesenheit von Routine gediehen beide bei fluiden Bündnissen und Grenzziehungen unter stets zerbrechlichen Bindungen, Rechten und Verpflichtungen. Diese Interessenkonvergenz bedeutete nichts Gutes für die persönliche Sicherheit aller im Grenzland, welche Vorsichtsmaßnahmen BewohnerInnen oder Reisende auch immer treffen mochten, um sich gegen die Gefahr zu wappnen. Das Grenzland wurde so zu einem Ort konstanter Ungewissheit, gleichzeitig wurde die Unsicherheit immun gegen jegliches wirksame Einschreiten; der Unsicherheit konnte nicht an der Wurzel begegnet werden. Wie in Koalitionen und auf Schlachtfeldern resultierte daraus ein frei-schwebendes Angstgefühl, das sich der beliebig gesetzten Ziele nie sicher war. Grenzland-Bedingungen lassen sich am besten vermitteln mithilfe von Jurij Lotmans Minenfeld-Metapher: Wir können mit sehr großer Sicherheit voraussagen, dass es dort zu Explosionen kommen wird, können aber, was Ort und Zeitpunkt betrifft, nichts als raten.

In der gegenwärtigen Fassung von Grenzland-Bedingungen haben globale Produktion, Handel und Kapital den früheren Platz der ViehbaronInnen eingenommen, während die einzeln oder in Gruppen frei herumstreichenden BanditInnen durch terroristische Netzwerke ersetzt worden sind samt einer unbestimmbaren Zahl verstreuter Individuen, die in terroristischen Taten einen Archetyp ihrer eigenen privaten Schlachten mit individuell erlittenen Traumata entdeckt haben oder zumindest einen Fingerzeig, wie ein stets verächtlich behandelter und mit Füßen getretener armer Wurm mit einem Knall zu Boden gehen kann.

Die Taten der beiden hauptsächlichen GegnerInnen/PartnerInnen im Grenzland-Spiel vermehren die Produktion menschlichen Abfalls ausgiebigst. Die ersteren sind überaus aktiv in der ‘Wirtschaftsfortschritt’-Abteilung der Branche, zweitere in ihrer ‘kreatives Zerstören von Ordnung’-Abteilung – eine gründlich deregulierte Version der Zwangsmaßnahmen, die moderne Staaten von Anfang an nutzten während sie für das Designen und Aufbauen sozialer Ordnung ein Monopol beanspruchten.

Keinerlei Autorität kann heute einen exklusiven Zugriff auf das vorgeblich ihrer Souveränität unterliegende Territorium beanspruchen. Sogar die am genauesten überwachten Grenzen sind durchlässig und erweisen sich als leicht überwindbar. Dank sensationslüsterner Medien (siehe den weithin publizierten Anblick des Auffahrens von Panzern am Londoner Flughafen Heathrow[6]) wird der Öffentlichkeit täglich in Erinnerung gerufen, welche massiven Kräfte mobilisiert werden, um Grenzlinien gegen Undichtheiten und Einbrüche zu verteidigen, und wie letztlich vergeblich solche Bemühungen sind. Frappierend unterschiedliche, ja oft inkompatible Vorstellungen zur rechten und korrekten Ordnung der Dinge stoßen innerhalb jedes angeblich souveränen Territoriums aufeinander und ihre VerfechterInnen samt Fußvolk wetteifern darum, die Welt auf die Höhe ihrer Ideen zu hieven – was unweigerlich auf Kosten der BewohnerInnen geht, die bei diesem ganzen Vorgehen in von Grund auf entbehrliche Requisiten der Kampfszene verwandelt werden, ‘Kollateralschäden’ der Kampfhandlungen.“

Soweit Zygmunt Bauman. Ich will seine Ausführungen nicht weiter kommentieren. Sie sollen als Anstoß zum Weiterdenken dienen.

Einen kurzen link zu Aktuellem will ich aber noch herstellen: Im Norden Mosambiks ist es gelungen, den Terrorismus zurückzudrängen. Zwei Jahre nach der Eroberung der Stadt Palma im Norden der Provinz Cabo Delgado durch “djihadistische“ Aufständische können ausländische InvestorInnen – insbes. der französische Multi TotalEnergies mit seinem Erdgas-Projekt – wieder aktiv werden. Dafür hat der Einsatz von Militärs aus Ruanda (2.800) und der südafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft SADC (1.900) sorgen können, kürzlich kamen noch 300 tansanische SoldatInnen dazu. Diese ausländischen Truppen werden von der EU bezahlt: Nach der Ukraine ist Mosambik der zweitgrößte Ausgabeposten der Europäischen “Friedens“fazilität. Freilich wird es auch die EU sein, die am meisten vom Erdgas Mosambiks profitiert…

Obwohl sich die Multis und die EU also die Hände reiben können, ist das Terrorismus-Problem Cabo Delgados keineswegs gelöst. Nach wie vor gibt es 850.000 Binnenflüchtlinge. 350.000 weitere sind inzwischen in ihre Dörfer zurückgekehrt – leben dort allerdings unter meist furchtbaren Bedingungen. Den nahezu hundert im Gebiet aktiven humanitären Hilfsorganisation gelingt es nicht, sie auch nur nahezu ausreichend zu unterstützen[7].

* * *

Endnoten:

[1] Foto NBC Television 20.9.1959, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bonanza_main_cast_1959.JPG.

[2] Petra Radeschnig gilt – wie stets – mein herzlicher Dank fürs Lektorieren!

[3] Ich maße mir nicht an, das Denken Zygmunt Baumans in solcher Kürze zusammenzufassen, hoffe sehr, dass ich nicht allzu falsch liege. Mein Zweck ist ein Erklären des Kontextes des Zitats.

[4] Foto sixoone 8.4.2009, leicht überarbeitet und in Schwarz-weiß verwandelt GL, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Gates_of_oil_refinery_in_Port_Harcourt.jpg.

[5] Zygmunt Bauman, Wasted Lives. Modernity and its Outcasts, Cambridge (polity) 2004, pp.87f. Übersetzung GL.

[6] Offenbar hat es im Februar 2003 (im Jahr vor dem Erscheinen des Buches von Zygmunt Bauman) einen vielbeachteten Truppen- und Panzeraufmarsch in London-Heathrow gegeben – siehe z.B. http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/2849829.stm.

[7] Siehe Borges Nhamirre, Cabo Delgado: two years since the Palma invasion, Institute for Security Studies, ISS Today 3.4.2023, https://issafrica.org/iss-today/cabo-delgado-two-years-since-the-palma-invasion.

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